Phrenological bust by LN FowlerPhrenological bust by LN FowlerThe History of Phrenology on the Web

by John van Wyhe


Möbius, Paul J., 'Goethe und Gall', in Goethe. idem Ausgewählte Werke, vol. 3, part 2, Leipzig, 1903, pp. 211-260.

PJ Möbius

This section of Möbius describes Goethe's interaction with Gall during the latter's lecture tour and the effects of Gall to be found in Goethe's diarys, letters, and works.

 

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Goethes erste Bekanntschaft mit Gall.

Die erste Spur in Goethes Werken davon, dass Goethe sich um Gall gekümmert hat, finden wir in dem 1802 geschriebenen Vorspiel "Was wir bringen". Es heisst dort im 10. Auftritte: "Das [der Reisende] scheint ein Physiognomist zu seyn, er macht uns Complimente die wir gern annehmen. Wenn er mir nur nicht, um sichrer zu gehen, nach der neuen Methode den Kopf befühlen will."

Gall war im J. 1801 [! eigentlich 1805] durch die Dummheit aus Wien weggetrieben worden und hatte begonnen, seine Lehre, die damals schon ziemlich fertig gewesen zu sein scheint, auf Reisen zu verkündigen. Mehr und mehr wandte sich ihm die allgemeine Theilnahme zu. Zwar hatte Gall noch fast nichts geschrieben, aber schon waren viele Schriften erschienen, die den Inhalt seiner Vorträge mehr oder weniger getreu wiedergaben.') Die Gegner fingen an, sich zu rühren, und im grossen Publicum wurde ebenso lebhaft verhandelt wie in den gelehrten Kreisen. Goethe hat Oalls Lehre wahrscheinlich durch Froriep kennen lernen. Ludwig Friedrich Froriep (1779-1847) aus Erfurt wurde 1802 ausserordentlicher Professor der Medicin in Jena, und

212 Goethe und Gall.

in diesem Jahre erschien die 3. Auflage seiner "Darstellung der neuen, auf Untersuchungen der Verrichtungen des Gehirns gegründeten, Theorie der Physiognomik des Hn. Dr. Gall in Wien" (Weimar, im Industriecomptoir [1800 u. 1801] 1802. B. 80 SS. Mit 1 Kpf.).2)

Vielleicht hat Froriep auch persönlich mit Goethe verkehrt. Im J. 1802 fragte Schadow Goethen, "ob er verstatten würde, mit dem Zirkel die Maasse nehmend, seinen Kopf zu zeichnen." Dies sei bedenklich, sagte Goethe, "denn die Herrn Berliner wären Leute, die daraus Manches deuten möchten - in Weimar wäre einer gewesen, der Galls Lehre anhieng, nämlich der Dr. Froriep, der gerade verreist sei."*)

Dass das Interesse für Gall bei Goethe angedauert hat, bezeugen die Annalen für 1803. Da lässt Goethe einen Brief abdrucken, den er am 24. Januar 1803 an Willemer in Frankfurt gerichtet hat.**) Es heisst dort "Dass wir aber alles Misswollende, Verneinende, Herabziehende durchaus ablehnten und entfernten, davon sey nachstehendes ein Zeugniss. Zu Anfang des Jahrs war mir durch einen werthen Freund ein kleines Lustspiel zugekommen mit dem Titel: Der Schädelkenner, die respectablen Bemühungen eines Mannes

') Der letzte Satz ist vielleicht nicht ganz correct. 1802 war Froriep in Jena. Er wurde 1804 nach Halle berufen, 1808 nach Tübingen, kam erst 1816 als sachsenweimarischer Obermedizinalrath nach Weimar.

**) Im Tagebuche steht unter 24. 1. 1803: Hrn. G. R. v. Willemer, Frankf. a. M. Theatr. Stück zurück."

213 Zurückweisung des "Schädelkenners".

wie Gall lächerlich und verächtlich machend. Ich schickte solches zurück mit einer aufrichtigen allgemeinen Erklärung, welche als ins Ganze greifend hier gar wohl einen Platz verdient.

,Indem ich das kleine artige Stück, als bei uns nicht aufführbar, zurücksende, halte ich es, nach unserm alten freundschaftlichen Verhältnisse, für Pflicht die näheren Ursachen anzugeben.

Wir vermeiden auf unserm Theater so viel möglich alles was wissenschaftliche Untersuchungen vor der Menge herabsetzen könnte, theils aus eigenen Grundsätzen, theils weil unsere Akademie in der Nähe ist, und es unfreundlich scheinen würde, wenn wir das, womit sich dort mancher sehr ernstlich beschäftigt, hier leicht und lächerlich nehmen wollten.

Gar mancher wissenschaftliche Versuch, der Natur irgend ein Geheimmiss abgewinnen zu wollen, kann für sich, theils auch durch Charlatanerie der Unternehmer, eine lächerliche Seite bieten, und man darf dem Komiker nicht verargen, wenn er im Vorbeigehen sich einen kleinen Seitenhieb erlaubt. Darin sind wir auch keineswegs pedantisch; aber wir haben sorgfältig alles was sich in einiger Breite auf philosophische oder litterarische Händel, auf die neue Theorie der Heilkunde u. s, w. bezog, vermieden. Aus eben der Ursache möchten wir nicht gern die Gall'sche wunderliche Lehre, der es denn doch so wenig als der Lavater'schen an einem Fundament fehlen möchte, dem Gelächter preisgeben, besonders da wir fürchten

214 Goethe und Gall.

müssten, manchen unserer achtungswerthen Zuhörer dadurch verdriesslich zu machen.

Weimar, den 24. Januar 1803.'"

Ich komme später auf die Frage zurück, was für ein Stück "der Schädelkenner" gewesen sei.

Erst am 21. 11. 1804 wird Gall wieder erwähnt. Goethe schreibt an Eichstädt: "Den Aufsatz über die Gallische Schädellehre finde ich vorzüglich gut; wer wird aber die über diese Materie herausgekommenen Schriften recensiren, wenn es dieser Verfasser nicht selbst thut? Dem es am leichtesten werden würde, weil hier nun schon eine Ansicht der Gallischen Leistung vorhanden ist und fernerhin das Verhältniss seiner Gönner oder Widersacher zu ihm selbst darzulegen wäre, wie es bey den französischen Schriften schon glücklich geschehen; denn freylich ist die Arbeit von 275 mit dieser nicht zu vergleichen." Eichstädt war Redacteur der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung, und Goethe förderte im Interesse Jenas dieses Blatt damals mit allen Kräften. Der Aufsatz, auf den sich Goethe in dem Briefe an Eichstädt bezieht, ist abgedruckt worden in J. A. L. Z. von 1805, No. 7, 8, 9 vom B. 9. 10. Januar, auf pp. 50. 58. 66. Er ist unterzeichnet mit J. G. und rührt von Görres her. Görres ist im Allgemeinen für Gall eingenommen, spricht aber von dem hohen Standpunkte des Naturphilosophen aus und erscheint daher jetzt als recht wunderlich, ja als verschroben. Auf p. 50 heisst es: "Gall hat in einer öffentlichen Erklärung, bey Gelegen-

215 Goethe über die Anzeige von Görres.

heit der Walterschen Schrift, sich förmlich von der Intellectualität losgesagt. Die Natur muss für diess Opfer ihn umsomehr mit ihrer Huld begünstigen, und ihre Gewogenheit in dem Maasse ihm zuwenden, wie er frommen Herzens in ihrem Dienste beharrt."

Görres berichtet über die Schriften Frorieps, Walthers*) (Landshut 1802), Martens (1802 und 1803), Grubers (1803), Metzgers (1803), Leunes (1803). Froriep verhalte sich als Referent, Walther als zustimmender Naturphilosoph.

Die "französischen Schriften", die Görres bespricht, sind: 1. Ein Vortrag von Bojanus in der Pariser Académie de Médecine am 12. Pluviose X, und ein 3 Blätter starker Rapport von Chaussier, Giraud und Duval am 7. Ventose (der Hauptgrund der Herren Rapporteurs gegen Gall sei der, dass der Kopf des ersten Consuls "äusserlich sehr klein" sei). z. Ein für Gall eintretender Brief von Charles Villers an Cuvier (hetz. An. X. 1802. 82 pp. 8°). 3. Eine französische Uebersetzung der Schrift Frorieps.

Mit 275 meint Goethe wahrscheinlich eine Besprechung einiger über Galls Lehre handelnder Schriften, die mit dem Zeichen - d - in No. 9 (p. 72) der J. A. L. Z. von 1805 abgedruckt ist. Sie rührt von Dr. Hagedorn her und ist in einem für Gall wohlwollenden Sinne verfasst. Goethe hatte am z. 1. 1805

*) Das Büchlein Walthers ist dadurch interessant, dass in

ihm die Vertheidigung Galls gegen den kaiserlichen Erlass abgedruckt ist.

216 Goethe und Gall.

an Eichstädt geschrieben: "Ew. Wohlgeb. erhalten . . . z. die beiden anderen auf Gall sich beziehenden Recensionen, deren Zurechtschneidung und Gebrauch völlig überlasse."

Die erste feindliche Aeusserung der j. A. L. Z. steht in No. 35 (p. 274) vom 11. z. 1805. Es ist in einer Anzeige der von H. Walther bearbeiteten Schrift des Tralles über das Opium die Rede von "Galls crass empirischer Kraniographie", und es wird von Heloten der Wissenschaftlichkeit gesprochen, die die Wissenschaft an der Erfahrung erproben wollen. Der Redacteur hätte diesen absurden Ausfall nicht durchgelassen, wenn er nicht schon hinter Goethes Rücken von Galls Feinden eingenommen gewesen wäre. Goethe scheint das Signal nicht beachtet zu haben.

Gall war 1805 in Berlin. Er wurde da von Vielen werthgeschätzt, ja er erregte solche Begeisterung, dass man zwei Medaillen auf ihn prägen liess.)

Andererseits ergrimmte der Anatom Professor Walter und griff ihn mit giftigen Waffen an.

Goethe schrieb am 26. April 1805 an Marianne von Eybenberg: "Doctor Gall macht in Berlin grosses Glück und nimmt viel Geld ein. Es sollte mir sehr interessant seyn, ihn kennen zu lernen, und wünschte daher wohl, dass er sich zu uns bemühte."

Gall kam zunächst in der Mitte des Jahres nach Halle, und hier traf er zum ersten Male mit Goethe zusammen. Leider ist Goethes Tagebuch für 1805 so dürftig, dass es nicht verwendet werden kann. Wir sind auf Goethes Darstellung in den Annalen und auf einige Briefstellen

217 Das Zusammentreffen in Halle.

angewiesen, soweit wie Goethes Aeusserungen in Betracht kommen. Goethe erzählt, er sei im Sommer nach Lauchstädt gegangen und von da nach Halle, einer Einladung des Professor Wolf folgend. Wolf war am 30. Mai nach Weimar gekommen und hatte den durch Schillers Tod niedergedrückten Goethe lebhaft angeregt. Die Verhandlungen mit dem widerspruchliebenden Wolf über antiquarische Fragen sollten in Halle fortgesetzt werden. Ob die Erwartung Galls zur Reise Goethes nach Halle beigetragen hat, wissen wir nicht. Goethe schildert den ihm nützlichen Verkehr mit Wolf und fährt dann fort:

"Hierauf nun erwartete mich in einem andern Fache eine höchst durchgreifende Belehrung. Dr. Gall begann seine Vorlesungen in den ersten Tagen des Augusts, und ich gesellte mich zu den vielen sich an ihn herandrängenden Zuhörern. Seine Lehre musste gleich so wie sie bekannt zu werden anfing, mir dem ersten Anblicke nach zusagen. Ich war gewohnt das Gehirn von der vergleichenden Anatomie her zu betrachten, wo schon dem Auge kein Geheimmiss bleibt, dass die verschiedenen Sinne als Zweige des Rückenmarks ausfliessen und erst einfach, einzeln zu erkennen, nach und nach aber schwerer zu beobachten sind, bis allmählich die angeschwollene Masse Unterschied und Ursprung völlig verbirgt. Da nun eben diese organische Operation sich in allen Systemen des Thiers von unten auf wiederholt und sich vom Greiflichen bis zum Unbemerkbaren steigert, so war mir der Hauptbegriff keineswegs fremd, und sollte Gall, wie man

218 Goethe und Gall.

vernahm, auch durch seinen Scharfblick verleitet zu sehr ins Specifische gehen, so hing es ja nur von uns ab, ein scheinbar paradoxes Absondern in ein fasslicher Allgemeines hinüber zu heben. Man konnte den Mord-, Raub- und Diebsinn so gut als die Kinder-, Freundes- und Menschenliebe unter allgemeinere Rubriken begreifen, und also gar wohl gewisse Tendenzen mit dem Vorwalten gewisser Organe in Bezug setzen.

Wer jedoch das Allgemeine zum Grund legt, wird sich nicht leicht einer Anzahl wünschenswerther Schüler zu erfreuen haben, das Besondere hingegen zieht die Menschen an, und mit Recht; denn das Leben ist aufs Besondere angewiesen, und gar viele Menschen können im Einzelnen ihr Leben fortsetzen, ohne dass sie es nöthig hätten weiter zu gehen als bis dahin, wo der Menschenverstand noch ihren fünf Sinnen zu Hülfe kommt.

Beim Anfang seiner Vorträge brachte er einiges die Metamorphose der Pflanze Berührende zur Sprache, so dass der neben mir sitzende Freund Loder mich mit einiger Verwunderung ansah; aber eigentlich zu verwundern war es, dass er, ob er gleich diese Analogie gefühlt haben musste, in der Folge nicht wieder darauf zurückkam, da doch diese Idee gar wohl durch sein ganzes Geschäft hätte walten können.

Ausser diesen öffentlichen, vorzüglich kraniologischen Belehrungen entfaltete er privatim das Gehirn selbst vor unsern Augen, wodurch denn meine Theilnahme sich steigerte. Denn das Gehirn bleibt immer der Grund und daher das Hauptaugenmerk,

219 Gans Vortrag als "Gipfel vergleichender Anatomie".

da es sich nicht nach der Hirnschale, sondern diese nach jenem zu richten hat, und zwar dergestalt, dass die innere Diploe der Hirnschale vom Gehirn festgehalten und an ihre organische Beschränkung gefesselt wird, dagegen denn, bei genugsamem Vorrath von Knochenmasse, die äussere Lamina sich bis ins Monstrose zu erweitern und innerhalb so viele Kammern und Fächer auszubilden das Recht behauptet.

Gans Vortrag durfte man wohl als den Gipfel vergleichender Anatomie anerkennen; denn ob er gleich seine Lehre von dorther nicht ableitete und mehr von aussen nach innen verfuhr, auch sich mehr eine Belehrung als eine Ableitung zum Zweck vorzusetzen schien, so stand doch alles mit dem Rückenmark in solchem Bezug, dass dem Geist vollkommene Freiheit blieb, sich nach seiner Art diese Geheimnisse auszulegen. Auf alle Weise war die Gall'sche Entfaltung des Gehirns in einem höhern Sinne als jene in der Schule hergebrachte, wo man etagen- oder segmentweise von oben herein durch bestimmten Messerschnitt von gewissen unter einander folgenden Theilen Anblick und Namen erhielt, ohne dass auf irgend etwas weiter daraus wäre zu folgern gewesen. Selbst die Basis des Gehirns, die Ursprünge der Nerven, blieben Localkenntnisse, denen ich, so ernst mir es auch war, nichts abgewinnen konnte; weshalb auch noch vor kurzem die schönen Abbildungen von Vicq d'Azyr mich völlig in Verzweiflung gesetzt hatten.

Dr. Gall war in der Gesellschaft, die mich so freundlich aufgenommen hatte, gleichfalls mit einge-

220 Goethe und Gall.

schlossen; und so sahen wir uns täglich, fast stündlich, und das Gespräch hielt sich immer in dem Kreise seiner bewundernswürdigen Beobachtung: er scherzte über uns alle und behauptete, meinem Stirnbau zufolge, ich könne den Mund nicht aufthun, ohne einen Tropus auszusprechen; worauf er mich denn freilich jeden Augenblick ertappen konnte. Mein ganzes Wesen betrachtet, versicherte er ganz ernstlich, dass ich eigentlich zum Volksredner geboren sey. Dergleichen gab zu allerlei scherzhaften Bezügen Gelegenheit, und ich musste es gelten lassen dass man mich mit Chrysostomus in eine Reihe zu setzen beliebte.

Nun mochte freilich solche geistige Anstrengung, verflochten in geselliges Wohlleben, meinen körperlichen Zuständen nicht eben zusagen; es überfiel mich ganz unversehens der Paroxysmus eines herkömmlichen Uebels, das von den Nieren ausgehend sich von Zeit zu Zeit durch krankhafte Symptome schmerzlich ankündigte. Es brachte mir diessmal den Vortheil einer grösseren Annäherung an Bergrath Reil, welcher als Arzt mich behandelnd mir zugleich als Praktiker, als denkender, wohlgesinnter und anschauender Mann bekannt wurde. Wie sehr er sich meinen Zustand angelegen seyn liess, davon giebt ein eigenhändiges Gutachten Zeugniss, welches vom 17. September dieses Jahrs unter meinen Papieren noch mit Achtung verwahrt wird.

Dr. Galls ferneren Unterricht sollte ich denn auch nicht vermissen; er hatte die Gefälligkeit den Apparat jeder Vorlesung auf mein Zimmer zu schaffen und

221 Gall über Goethe.

mir, der ich durch mein Uebel an höherer Beschauung und Betrachtung nicht gehindert war, sehr auslangende Kennmiss und Uebersicht seiner Ueberzeugungen mitzutheilen.

Dr. Gall war abgegangen und besuchte Göttingen; wir aber wurden durch die Aussicht eines eigenen Abenteuers angezogen." [Folgt der Besuch bei Beireis.]

Auch von Galls Seite liegen einige Aeusserungen vor. Er schrieb4) seinem Freunde U. A. Streicher: "Als ich nach Halle kam, wartete schon Goethe auf mich, er war in der Absicht dahin gereist, obschon er sich sehr übel befand. Er war mein eifrigster Zuhörer und diese Ehre wurde mir sehr beneidet." Steffens, Loder und Vulpius sollen Gall in der Meinung bestärkt haben, Goethe sei seinetwegen gekommen. Gall schrieb weiter: "Obendrein musste ich Goethe öfters eigene Vorlesungen zu Hause geben, damit wir ja mit unseren wechselseitigen Ideen recht vertraut werden sollten. Er bestätigte häufig meine Sätze mit seiner eigenen Erfahrung und war überaus glücklich bei dem Uebergang meiner Aufschlüsse über die bestimmten Eigenschaften des Geistes. Unsere Gemüther schmolzen oft so ganz inniglich zusammen. Wir sahen uns und verliessen uns nie, ohne uns herzlich zu umarmen. Es ist aber auch wahr, Goethes Kopf ist ein göttlicher Kopf, was es vorragt, wie edel es sich hinwölbt, wie sichs zum Bilde eines Jupiter eignet. Ach Streicher bei solcher Erscheinung möchte ich mir selbst Weihrauch streuen und mir zurufen ach du seliger Gall! So hat Gott überall eine leserliche Hand

222 Goethe und Gall.

geschrieben, aber nur wenige sind eingeweiht diese Hand auch lesen zu können"

Ein weiterer Bericht über die Vorgänge in Halle steht im Intelligenz-Blatte der J. A. L. Z. vom 28. Juli 1805 (No. 83. p. 701): "Dr. Gall hält seine Vorlesungen seit dem 8 ten dieses bey uns Abends von 6-8 Uhr, und wird bis zum Ende dieser Woche fortfahren [der Brief ist vom 16. Juli datirt]. Goethe, der sich jetzt hier aufhält, und Wolf sind aufmerksame Zuhörer von ihm, und beide lassen seinem feinen Beobachtungsgeiste und Scharfsinne volle Gerechtigkeit widerfahren. Gall hat überhaupt etwa 120 Zuhörer, unter welchen wenigstens 30-40 Freybillets erhalten haben; keinem, der sich darum beworben hat, versagte er den Zutritt. Er logirt bey dem Geh. Rath Loder. Ob alle Resultate, welche Gall aus seinen vielen und trefflichen Beobachtungen zieht, richtig sind, wagt man nicht zu behaupten; doch ist er selbst so bescheiden, mehrere derselben nur für Vermuthungen auszugeben. Was die anatomischen Facta betrifft, auf welche er sich stützt: so hat unseren berühmten Anatomiker von der Richtigkeit mehrerer derselben die Autopsie und anatomische Evidenz überzeugt; andere schienen demselben noch nicht klar genug, weil er erst ein paar Menschengehirne - die noch dazu sehr weich waren - mit Gall zergliedert hat. Loder will sich alles von Gall wiederholt zeigen lassen, und dann für sich allein eine Reihe von Versuchen an Menschen- und ThierGehirnen machen, um alles genau zu prüfen; nachher erst wird er sein Urtheil darüber öffentlich geben. -

223 H. Steffens über Gall in Halle.

Es ist zu beklagen, dass Hr. Walther in Berlin sich durch Animosität und Vorurtheil hat verblenden lassen, Dinge zu leugnen, die nicht zu leugnen sind, und andere hingegen zu behaupten, die offenbar falsch sind. Seine ,Etwas' würden gewiss anders ausgefallen seyn, wenn er erst untersucht, und nachher geschrieben hätte. - Gall geht von hier auf einige Tage nach Weimar, und von da über Gotha nach Göttingen, wo er Blumenbachs Cabinet sehen, vielleicht auch wohl Vorlesungen halten wird."

Endlich hat als Augenzeuge H. Steffens über Gall in Halle berichtet (Was ich erlebte. VI. p. 48. 1842). "Lall trat in dem grossen Saal eines Gasthauses auf, von Thier- und Menschen-Schädeln umgeben. Seine Vorträge sprachen seine innige Ueberzeugung aus, und er äusserte sich ganz mit der Leichtigkeit der Conversation: . . . Goethe sass unter den Zuhörern auf eine höchst imponirende Weise. Selbst die stille Aufmerksamkeit hatte etwas Gebietendes, und die Ruhe in den unveränderten Gesichtszügen konnte dennoch das steigende Interesse an der Entwickelung des Vortrages nicht verbergen. Rechts neben ihm sass Wolf und links Reichardt." Es wird weiter erzählt, wie Gall die Köpfë seiner Zuhörer als Beispiel benutzt habe. Er sagte, der grosse Dichter sei ein Beispiel des schönen und bedeutenden Ebenmaasses ohne in bestimmten Richtungen ausgezeichnete Erhebungen des Schädels. "Das ganze Auditorium sah Goethe an. Er blieb ruhig, ein kaum bemerkbares vorübergehendes Missvergnügen verlor sich in einem unterdrückten

224 Goethe und Gall.

ironischen Lächeln, aber die stille unbewegliche Ruhe seiner Gesichtszüge ward dadurch nicht gestört." Gall sprach vom Tonsinne und zeigte sein Organ an Reichardts Kopfe. Er sprach dann vom Sprachgedächtnisse, Wolf aber drehte den Kopf und nahm die Brille ab, schon ehe ihn Gall als Beispiel genannt hatte. Die etwas unklaren Erörterungen des Steffens über Physiognomik und seine Kritik übergeht man am besten. Doch ist noch folgende Bemerkung von Interesse: "Die Vorlesungen Galls hatten indessen einen für die Wissenschaft heilsameren Erfolg; sie waren es vorzüglich, die Reil dazu vermochten, seine Untersuchungen über das Gehirn und Nervensystem wieder aufzunehmen."

Gall ging von Halle nach Jena, Weimar, Wilhelmsthal.

Ueber Jena schreibt er: "Weil ich anfänglich glaubte, dass ich in Weimar nicht lesen würde, so kam die Herzogin Mutter mit ihrem Hofstaate und mit Wieland nach Jena und hielten sich während dem ganzen Curs da auf."

Später schreibt er mit Hinsicht auf Weimar: "Wieland ist das liebenswürdigste Wesen in der Welt, ehrwürdig durch sein hohes und schönes Alter, anbetungswürdig durch seine edle Stirne und durch seine naive Simplicität. Wir speisten täglich beisammen, und fuhren immer in einem Wagen. Wir hatten also Gelegenheit uns zu durchdringen. Hundertmal ergriff er mich bei der Hand, schüttelte mir sie unter dem Ausdrucke, Du herrlicher Mann! ach warum

225 Gall in Goethes Briefen.

kannst Du nicht bei uns bleiben! - Mit Thränen in den Augen mussten wir scheiden und unter diese Thränen mischten sich die Thränen der vortrefflichen Herzogin. Ueberhaupt war dieser Aufenthalt in Weimar sehr angenehm. - Schwerlich wird jemand so glücklich sein mit den ausgewählten Menschen von allen Klassen so vertraut zu werden, wie ich. Keinem Kaiser könnte man mehr Achtung und Zudringlichkeit erweisen. Ich muss daher unserem Zeitalter volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass es mich weit über meine Verdienste und zwar noch bei Lebzeiten belohnt hat. Dieses soll mir aber auch ewig zur Aufmunterung dienen, nie etwas Anderes als wohlthätige Wahrheiten zu suchen und diese nicht in die Stuben der Gelehrten, sondern in die Herzen der gesammten Menschheit zu vergraben."

Wie lebhaft Goethes Interesse war, das zeigen seine Briefe. Am 3. 8, schreibt er von Lauchstädt aus an Cotta: "Dr. Gall ist auch in Weimar sehr wohl aufgenommen worden und wird wahrscheinlich von der Mitte dieses Monats an daselbst und in Jena lesen. Auch ist schon ein Ruf aus Bremen an ihn ergangen. Wenn er nicht so geschwind nach Hause eilt, so kann er noch ganz Deutschland erobern" Am 5. B. schreibt er an Nicolaus Meyer in Bremen: "Ihr Schreiben an Herrn Dr. Gall habe ich sogleich nach Göttingen abgeschickt, als wohin er unmittelbar zu reisen willens war, da er aus dieser Gegend wegging. Allein ich höre nun, dass er noch in Weimar lesen und vor der Hälfte dieses Monates wohl kaum von dort scheiden

226 Goethe und Gall.

wird. Ich werde also Ihr Gesuch entweder mündlich oder schriftlich bey ihm anbringen. Er verdient auf alle Weise, von jedem Denkenden gekannt und gehört zu werden: denn ausser dem höchst Belehrenden seines Vortrags findet man in demselben die .angenehmste Unterhaltung." Am 16. B. schreibt er an den Herzog: "Indessen habe ich Galls Vorlesungen mit grosser Unbequemlichkeit abgewartet und mich doch sehr unterhalten und erbaut gefunden. Wahrscheinlich haben Ew. Durchlaucht ihn nunmehr selbst gesehen und gehört, beurtheilt und geschätzt." Am 28. B. schreibt er wieder an den Herzog: "So gelangten wir . . . wieder nach Halle, wo Dr. Galls Nahme noch immer nachklingt, über dessen Leistungen ich mich bald mit Ew. Durchlaucht mündlich zu unterhalten hoffe." Am 16. I1. schreibt er an Eichstädt: "Ew. Wohlgeb. erhalten mit Dank das übersandte Lustspiel zurück. Es ist zwar nicht ohne Humor, doch stösst es gegen eins der Hauptgesetze unsres Theaters an, indem es den Doctor Gall nennt und sich hauptsächlich auf dessen Wesen und Treiben bezieht. Ich lasse jederzeit die Namen lebender Personen ausstreichen und die Stellen verändern, wenn ihrer im Vorbeygehen erwähnt wird; denn ich glaube nicht, dass man das Recht hat bekannte Männer - und solche müssen es doch wohl seyn - im Guten oder Bösen auf dem Theater zu erwähnen." 5)

Im Tagebuche steht unter 24. 3. 1806: "Rec. Galls in der j. A. L. Z.", unter 12. 4. 1806: "Hofr. Eichstedt mit dem Müllerischen Brief." In diesem Briefe an

227 Die schreckenerregende Recension.

Eichstädt heisst es: "Wenn ich Ew. Wohlg. zu antworten bisher gezaudert, so war es nur um mich von dem Schrecken zu erholen, den Sie mir durch die Recension über Gall erregt haben. Gewiss hätten Sie mir solche vorher mitgetheilt, wenn Sie nur einen geringen Theil der unangenehmen Empfindung, die mir solche verursacht geahndet hätten." Goethes Zorn, den er sehr mild ausdrückt, ist sehr berechtigt. Die "schreckenerregende" Recension ist ein gehässiges Machwerk, in dem der Recensent auf den thörichten Ackermann gestützt über Gall von oben herab aburtheilt. Diese boshafte Besprechung hat Eichstädt veröffentlicht, obwohl er wusste, dass Goethe in freundschaftlicher Beziehung zu Gall stand, und dass Alle, auch Gall, annehmen mussten, die Recensionen der j. A. L. Z. seien von Goethe, ihrem Protector, gebilligt. Das musste ja Goethen am meisten kränken, dass der Anschein entstand, er lasse Gall, den er bisher gelobt hatte, hinterrücks angreifen. Diese Erfahrung wird wohl eine von denen sein, die Goethen veranlassten, später von "dem Abgrunde der jenaischen Professoren - Gemeinheit" zu sprechen. In den Anmerkungen zu Goethes Briefwechsel mit Eichstädt lesen wir, dass der Geheimrath Voigt, der anfänglich von dieser "Gall'schen Abfertigung" sehr befriedigt gewesen sein soll, am 7. 4. 1806 über deren Aufnahme bei Goethe geschrieben hat: "Bei der Unterredung mit Herrn v. Goethe hat es mir geschienen, dass er über die Gallsche Recension insofern verlegen sei, als ohne Noth mit einiger Animosität dabei verfahren, und er

228 Goethe und Gall

daher wohl gewünscht hätte davon vorher unterrichtet gewesen zu sein, zumal Sachkenntniss ihn dazu qualificire." Ebenda wird auch gesagt die mit j. R. unterzeichnete Recension sei von Reil. Reil hatte früher gesagt, er habe "in Galls anatomischen Demonstrationen des Gehirns mehr gesehen, als er geglaubt hätte, dass ein Mensch in seinem ganzen Leben entdecken könnte." Jetzt dankte er Gall dafür mit dem anonymen Angriffe auf seine Anatomie und seine Schädellehre, auf sein Wissen und seinen Charakter. Die Professoren Walter und Ackermann hatten Gall verurtheilt, da konnte doch Reil nicht zurückbleiben. Ich habe mich entschlossen, die giftige Recension abdrucken zu lassen, damit dieser Beitrag zur Geschichte der deutschen Gelehrten nicht verloren gehe.') Einige Bemerkungen über Reil seien angefügt,') und auch den Herren Walter und Ackermann seien einige Worte gewidmet.')

Nach Laube (Neue Reisenovellen Il. p. 158. 1837) hat Goethe folgendes über Gall gesagt. Zwar ist diese "mündliche Mittheilung" anderweit nicht bezeugt, aber sie klingt so, als wäre sie echt.

"Von seinem [Galls] Vortrag ist man im Ganzen wohl zufrieden. Ist er gleich nicht immer streng logisch geordnet, und laufen gleich zuweilen entbehrliche excursus mit unter, so ist er doch immer nicht nur unterhaltend, sondern auch wirklich belehrend. Ich habe den Schlüssel zu manchen von mir gemachten Beobachtungen gefunden. Auch ist mir Gall's Organenlehre, ob wir gleich noch nicht an das Detail gekommen sind, doch schon ziemlich klar, und scheint

229 Mündliche Aussprüche Goethes über Gall.

mir sehr annehmlich. Das den Schädel ein wenig emportreibende kleine Partikelchen Hirn thut's freilich nicht, sondern der gesammte Theil des Nervensystems, der in jenem Partikelchen sich endet. Ich stelle mir es so vor. Wenn wir einen Schädel in den Händen haben, und auf ein an demselben befindliches sogenanntes Organ hinabsehen, so blicken wir aus der Höhe auf einen belaubten Wipfel eines Baumes, dessen Aeste wir aus unserem Standpunkt nicht bemerken, und noch weniger den (hier in Rückenmark eingehüllten) Stamm sehen können. Aber wenn ich aus meinem Fenster meiner obersten Etage auf einen tief darunter stehenden Baum hinabsehe, so unterscheide ich gewiss sehr richtig an der Belaubung des Wipfels, ob der Baum in gesundem starkem Trieb stehe, oder ob er am Stamm den Brand habe, an der Wurzel von Wassermäusen angenagt sei u. dergl. Selbst die einzelnen kränkelnden oder gesunden Aeste erkenne ich so von oben herab sehr sicher an der Beschaffenheit ihrer Belaubung. Nicht als wenn die Kraft des Baumes von dem üppigen Laub abhinge, sondern ich dort oben, der ich nicht hinabsteigen und Stamm und Wurzel untersuchen kann, erkenne nur die kräftige und kränkelnde Vegetation am Laube des Wipfels."

Im Gespräche mit Riemer sagte Goethe am z. December 1806. "Wenn die Natur einen bestimmten Etat für die genera der organischen Wesen hat, demzufolge sie eine starke Ausgabe durch eine Ersparniss wieder compensiren muss, so hat sie ihn wahrscheinlich auch bei den Individuen. Um nur vom Menschen zu reden,

230 Goethe und Gall.

so scheinen die starken Ausgaben an gewissen Theilen der Organisation gewisse Schwächen an anderen nach sich zu ziehen. Und auf dieser Lässigkeit, auf dieser Balancirung, scheint es, beruht alle Verschiedenheit der Bildung, und nur auf diesem Wege dürfte G al l s Theorie zu begründen sein."

"Das Gall'sche System kann dadurch zu einer Erläuterung, Begründung und Zurechtstellung gelangen.

Es ist ein sonderbarer Einwurf, den man gegen dasselbe davon hergenommen hat, dass es eine partielle Erklärungsweise sei von Erscheinungen, die aus dem gesammten organischen Wesen ihre Erklärung schöpfen. Als wenn nicht alle Wissenschaft in ihrem Ursprunge partiell und einseitig sein müsste! Das Buchstabiren und Syllabiren ist noch nicht das Lesen, noch weniger Genuss und Anwendung des Gelesenen; es führt doch aber dazu. Eine Würdigung dieser erst aufkeimenden Wissenschaft oder dieser Art des Wissens ist noch viel zu früh."

Unter dem 16. December 1806 schreibt Rierner: "Goethe bemerkte, dass, da er nach Gall die Gabe habe, sich nur gleichnissweise auszudrücken, er nun auch das Verhältniss der Newtonischen Lehre zu seiner und der frühern in einem Gleichniss darstellen wolle: er habe dieses gefunden in den verschiedenen astronomischen Systemen. Das Newtonische verhalte sich zu dem neuesten, seinem, wie das Tycho-de-Brahische zu dem Kopernikanischen."

Im Tagebuche ist unter 23. z. 1807 notirt: "Abends Comödie : Die Organe des Gehirns." Es handelt sich

231 Galls Besuch bei Goethe.

um ein recht lustiges Stück Kotzebues; ein Urtheil Goethes darüber scheint nicht bekannt geworden zu sein.)

Im Jahre 1807 sehen Goethe und Gall einander zum zweiten und letzten Male. Gall war 1805 über Hamburg nach Dänemark gegangen, hatte dann Westdeutschland, Holland und die Schweiz bereist, und rüstete sich 1807 zur Reise nach Paris, das vom Spätherbst 1807 an sein dauernder Aufenthalt gewesen ist. Am 23. September 1807 schreibt Gall an Bertuch in Weimar: "Wenn Goethe da ist, so beschwören Sie ihn doch, dass er mir seinen prächtigen herrlichen Kopf abdrücken lässt. Alle Welt lacht mich aus, dass ich ihn nicht habe; ich will recht sanft mit ihm umgehen." Im Oktober kommt Gall nach Weimar. In Goethes Tagebuche heisst es unter dem 16. 10. 1807: "Nachher [nach anderen Besuchen am Vormittage] Dr. Gall und Sporzheim [sic]. Zu Tische Deny und Sophie Teller. Dr. Gall kam nach Tische wieder, wo wir über seine Lehre bis gegen Abend sprachen; da ich mich für ihn abgiessen liess." Unter dem 17. 10.: "Ueber Galls Erzählungen und Vorträge nachgedacht." Wir erfahren also, dass Goethes Gesichtsmaske damals entstanden ist.

Goethe hat selbst durch einen Gedächtnissfehler Irrungen hervorgerufen. Er schrieb nemlich am 27.2. 1820 an S. Boisserée: "Es sind wohl sechs und mehr Jahre, dass ich Gall zu Liebe, der bei uns einsprach, meine Maske abformen liess, sie ist wohl gerathen; Weiser hat sie nachher aufgesetzt und die Augen ge-

232 Goethe und Gall.

öffnet." Im Tagebuche von 1807 heisst es: (19. 10.) "Um 4 Uhr zu Weisser," (21. 10.) "Nachmittag bey Weissern wegen der Büste." (22. 10.) "Bey Weissern wegen der Büste." (24. 10.) "Nachmittag bey Weissern" Es scheint sich also das Aufsetzen und Augenöffnen durch den Bildhauer Weisser gleich an die Abformung angeschlossen zu haben. Wahrscheinlich hat Goethe später die durch Weisser bearbeitete Gallsche Maske gemeint, wenn er am 18. B. 1820 sagt, dass die Berliner Künstler (Tieck und Rauch) zur Vorbereitung der Büste "die vorhandene Maske ausdruckten."

Wer die Maske selbst gemacht hat [Gall? Spurzheim?], wohin die ursprüngliche Maske gekommen ist, das erfahren wir nicht. Das aber steht fest, dass wir Gall das einzige zuverlässige Bild aus Goethes Mannesjahren verdanken.

Ein Nachklang des Besuches von Gall ist es, wenn Goethe im Tagebuche unter dem 3. 11. 1807 berichtet: "Besuchte ich dieselben [Savignys] und ging nachher zu der Prinzess Caroline, wo Frau von Stein gegenwärtig war. Ich unterhielt sie mit dem Schema der Gemüthskräfte und der daraus zu ziehenden Horoskopen" In den Briefen wird Galls Besuch nur einmal erwähnt. Goethe schreibt am 19. 10. 1807 an einen Unbekannten: Seine Aufmerksamkeit werde wieder auf den Maler Klotz gelenkt, "indem Herr Dr. Gall in diesen Tagen mir von den fortgesetzten Bemühungen desselben [um eine Farbenlehre] erzählt hat." Da Klotz aus seinen Ansichten kein Geheimniss mache, wie er

233 Goethe als Phrenolog.

wisse, "und ich von Herrn Dr. Gall abermals vernehme," so wünsche er Näheres zu wissen.

Wie ernst es Goethe mit Galls Lehre nahm, beweist das, dass er sich nicht scheute, öffentlich Schädel nach Galls Anleitung zu beurtheilen. Im ersten Hefte des zweiten Bandes der Aufsätze" über Kunst und Alterthum" (Von Goethe, Stuttgard. 1818.) auf S. 189 ff. wird über die durch Ausgrabungen bei Gross-Romstedt (in der Nähe Weimars) gewonnenen Skelete berichtet. Es heisst da: "An den Schädeln fand man keine Verwundung, das Beysammenliegen von Männern, Weibern und Kindern möchte wohl eine ruhige Nomaden-Horde andeuten. Das Merkwürdigste jedoch vor allem andern ist die herrliche Gestalt dieser Knochen-Reste; die Schädel jedoch, (wir sagen es mit Einstimmung unseres Freundes Blumenbach,*) von der grössten Schönheit. Die Organe, nach Gallischen Bestimmungen ausgesprochen, bezeichnen ein Volk mit den glücklichsten Sinnen für die Aussenwelt begabt, nicht weniger mit allen Eigenschaften, worauf sich Dauer und Glück der Familien und Stämme gründet. Das Organ des Enthusiasmus fehlt ganz auf der Höhe des Scheitels, dagegen vermisst man sehr gern die garstigen egoistischen Auswüchse die sich hinter den Ohren eines ausgearteten Menschengeschlechts zu verbergen pflegen."

Am 15. Januar 1816 schrieb Goethe an v. Sack, die Vortheile des Aufenthaltes in Paris seien gross, "sodass Männer wie Humboldt und Gall, wenn sie

") Goethe hatte die "Silhouetten" der Schädel an Blumenbach geschickt (Briefes. mit Eichstädt, 319).

234 Goethe und Gall.

sich selber nicht verkürzen wollten, einen solchen Aufenthalt nicht verlassen dürften."

Aus der späteren Zeit ist wenig mehr anzuführen. Goethes Theilnahme wandte sich anderen Dingen zu, und nur hie und da wird Gall noch erwähnt.

Am 24. Juni 1823 nahm Goethe im Gespräche mit F. von Müller Partei für Galls Lehre gegen die Pariser Kritiker.

Als Goethe den zweiten Aufenthalt in Rom bearbeitete, wies er bei Gelegenheit des angeblichen Raphael-Schädels) auf Gall hin: "Ein wahrhaft wundersamer Anblick! Eine so schön als nur denkbar zusammengefasste uud abgerundete Schale, ohne eine Spur von jenen Erhöhungen, Beulen und Buckeln, welche, später an andern Schädeln bemerkt, in der Gall'schen Lehre zu so mannichfaltiger Bedeutung geworden sind."

In den Wanderjahren schreibt Hersilie an Wilhelm, sie habe den Schlüssel zu dem wunderbaren Kästchen gefunden, und habe ihn heimlich an sich genommen. "Da sehen Sie nun, in was für einen Zustand mich die Freundschaft versetzt: ein famoses Organ entwickelt sich plötzlich, Ihnen zu Liebe; welch ein wunderlich Ereigniss!" Natürlich ist Galls Organ des Erwerbsinnes oder Stehltriebes gemeint.

Am 20. Juni 1827 erwähnte Goethe gegen F. von

*) Der echte Schädel ist bekanntlich später in Raphaels Grabe gefunden worden. Der Schädel in der Akademie S. Luca, von dem Goethe spricht, soll einem anderen Künstler (Gregorio Adjutorio) angehört haben.

235 Die letzten Zeugnisse.

Müller Galls Verlangen nach einem Abgusse seines Kopfes.

Im Tagebuche ist unter dem 1. 7. 1830 bemerkt, Goethe habe aus der Jagemannischen Verlassenschaft einen Schädel erhalten, der für den van Dyks gehalten werde, "auf alle Fälle aber von der vorzüglichsten Construction ist." Goethe konnte von Vorzüglichkeit blos im Sinne Galls sprechen. Der Schädel ist übrigens noch im Goethe-Hause zu sehen.

Am 17. Januar 1831 scherzte Goethe im Gespräche mit Soret über den zugespitzten Kopf Karls X.: "das Organ der Religiosität erscheint bei ihm sehr entwickelt."

Endlich sei noch eine Stelle aus einem Briefe Knebels an Goethe angeführt, und zwar deshalb, weil Rollett sie als Ausspruch Goethes giebt. Knebel schreibt am 13. 3. 1807: "Da haben sie einen Franzosen secirt und seinem Hirnschädel nach Galls Grundsätzen manches Zweideutige nachgesagt." Knebel will sich nicht in "diese frevelhaften Dinge" einlassen.

Ob Gall sich nach 1807 noch über Goethe ausgesprochen hat, wissen wir nicht, da seine Briefe noch nicht bekannt sind. Rollett giebt nur folgende Stelle aus einem Briefe an Streicher von 1827: "Vor einigen Monaten habe ich die Büste von Göthe erhalten, wenn sie, wie man mir versichert hat, auf ihm abgegossen worden ist, so ist der Kopf um vieles kleiner geworden, als ich ihn vor 21 Jahren gesehen habe. Damals war er ein reiner Apollo, Augen wie ein Gott, eine Stirne, die mich bezauberte und das Organ des Scharfsinnes,

236 Goethe und Gall.

wie ich es noch nirgendwo gesehen hatte. Nun ist Alles um Vieles zurückgeschwunden. Es geht mit unserem Gehirne, wie mit den Brüsten der Weiber und wenn's einmal zum Lumpen wird, so hat Kraft und Grazie ein Ende."

Rollett meint, es könnte die nicht ganz lebensgrosse Büste von Posch in Berlin gemeint sein. -

Was ist nun bei alledem herausgekommen? Im Grunde nicht viel. Gall hat sich an Goethes schönem Kopfe erfreut, aber nichts deutet darauf hin, dass Goethe stärker auf ihn eingewirkt hätte. Gall war eben derart von seiner Thätigkeit erfüllt, dass er wohl geben, aber nicht nehmen konnte.

Grösser war die Wirkung Galls auf Goethe. Sowohl durch Galls Gehirnanatomie, wie durch seine Schädellehre fühlte sich Goethe gefördert. Er hatte bei Loder die gewöhnliche Art der Gehirnzerlegung kennen lernen, d. h. Abtragung von oben her und Benennung der nach einander bloss gelegten Theile. Begreiflicherweise musste ihn Galls Art sehr ansprechen, denn die herkömmliche Manier, die das Gehirn, "wie einen Käse" behandelte, gab keinen Aufschluss über den Zusammenhang der Theile, während Gall, dessen Vorgänger Willis gewesen war, vom Rückenmarke ausgehend den natürlichen Faserzügen folgte und so den Bau des Organes klar machte. Auch die Auffassung Galls, dass das Gehirn die Blüthe des Rückenmarkes, sozusagen ein entfaltetes und gesteigertes Rückenmark sei, musste Goethen sehr gefallen, weil sie sich mit seiner Ansicht traf, nach der der Schädel aus einer Anzahl von Wir-

237 Galls Bedeutung für Goethe.

beln entstanden ist. Beide hatten eben im Gegensatze zu den Gelehrten ihrer Zeit das Richtige erfasst, und deshalb gab es ein erfreuliches Zusammentreffen. Immerhin wird Goethe nicht allzutief in die Gehirnanatomie eingedrungen sein, denn seine Liebe war nun einmal der Osteologie zugewandt.

Zur Schädellehre aber war Goethe durch Lavater und die Beschäftigung mit der Physiognomik gekommen. Zwar hatte er die Physiognomik liegen lassen und war auf die vergleichende Anatomie zurückgegangen, aber dabei spielte, wie er selbst sagt, der Pik auf den Propheten eine wichtige Rolle; das Princip der Physiognomik, die Möglichkeit, aus dem Aeusseren auf das Innere zu schliessen, hat Goethe immer festgehalten. Es musste ihm deshalb Galls Kephaloskopie von vornherein sympathisch sein. Galls Darstellung leuchtete ihm ein, und wenn er auch im Einzelnen Vorbehalte machte und Gall nicht überallhin folgen mochte, so war er doch überzeugt, dass Gall auf dem richtigen Wege sei. Seine Vorstellung von den Gehirnorganen war, wenn Laubes Mittheilungen richtig sind, etwas wunderlich, da er sich danach gedacht hat, sie möchten sich durch directe Faserzüge in das Rückenmark hinein fortsetzen, aber darauf kommt es weniger an. Dass man aus der Gestaltung des Schädels auf die Gestalt des Gehirns und somit mittelbar auf die seelischen Fähigkeiten schliessen könne, das glaubte er, und daran hat er, wie es scheint, immer festgehalten. Aber freilich, über eine Art von kühler Anerkennung kam er nicht hinaus. Dass Galls Lehre eine Um-

238 Goethe und Gall.

wälzung von höchster Bedeutung ist, dass mit ihr eine neue Psychologie und eine neue Gehirnphysiologie gegeben ist, das wurde ihm wahrscheinlich nicht klar. Man muss bedenken, dass Goethe doch nur oberflächlich mit der Sache bekannt wurde, und dass Gall selbst 1805 und 1807 noch nicht so wie später seine Anschauungen herausgearbeitet hatte. Wahre Einsicht hätte Goethen nur Galls grosses Werk geben können, und das hat er offenbar nie gesehen. Man könnte sagen, dass Goethes Scharfsinn von selbst die von Gall übernommenen Gedanken hätte weiterführen sollen. Aber Goethe war im j. 1805 56 Jahre alt, und es Zväre ungerecht, zu verlangen, dass sein Geist noch damals neue Wege hätte einschlagen und zu den vielen Aufgaben, die er übernommen hatte, neue hinzufügen sollen. Wohl wäre es anders gekommen, wenn statt des Lavaterschen Unsinnes dem jungen Goethe Galls Lehre entgegengebracht worden wäre, und es ist recht Schade, dass es nicht geschehen ist. Aber den wirklichen Verhältnissen gegenüber darf man sich nicht darüber wundern, dass eine tiefgehende und andauernde Theilnahme Goethes nicht zu erreichen war. Es ist genug, dass der alternde Mann mit offenem Sinne und mit Wohlwollen das Neue aufnahm. Goethe übertraf auch diesmal die Anderen, denn er zeigte sich auch hier als scharfen Beobachter und als redlichen Mann.lo)

241 Die Ersten Schriften über Gall

Anmerkungen.

1) "Man erregte seit einiger Zeit die Aufmerksamkeit des deutschen Publicums auf die Gehirn- und Schädellehre des Herrn Doctors Gall in Wien durch mehrere bereits im Druck erschienene Schriften. Der Herr Doctor selbst hat bisher nur in einem weit früher herausgegebenen Werke,*) bey dessen Ausarbeitung die jetzt von ihm aufgefassten und ins Detail erweiterten Ansichten ihm selbst sich nur noch in dunkelnder Ferne zeigten, einige Grundzüge seiner Theorie des Schädels im Zusammenhange mit mehreren andern physiologischen Ideen entwickelt, und in einem an den Freyherrn von Retzer überschriebenen, Briefe historische Nachricht von seinen Entdeckungen im Allgemeinen gegeben, ausserdem aber sich nur mündlich einem bald grössern, bald kleinem Publicum, in Vorlesungen mitgetheilt. Allein mehrere junge Aerzte, welche während ihres Aufenthaltes in Wien die Gall'schen Vorlesungen besuchten, haben bereits nähere Notiz von denselben in das Publicum gebracht, indem sie in Druckschriften einige Reflexionspuncte der neuen Theorie, oder in academischen Streitsätzen Aphorismen über dieselbe aufstellten, oder die Redacteure periodischer Blätter mit einigen Daten zu Aufsätzen über dieselbe versahen.

Es ist nicht leicht von einer neuen Entdeckung in der kurzen Zeit von drey Jahren so viel geschrieben, und ohne Zu-

____________________

*) Gall's philosophisch-medicinische Untersuchungen über Natur und Kunst im gesunden und kranken Zustande des Menschen. Wien. 1791.

242 Anmerkungen zu "Goethe und Gall".

thun des Entdeckers selbst im Publicum verhandelt worden, als von der Gall'schen Schädellehre. Alle periodische Blätter sind mit Novellen, Anzeigen, Bemerkungen, selbst Zergliederungen der von ihr aufgestellten Grundsätze angefüllt: nicht blos in Deutschland hat sie diess allgemeine Interesse erregt; sondern selbst französische und englische Blätter suchen die Aufmerksamkeit ihrer Leser auf Gall und seine Entdeckungen hinzuleiten. Wenn ich es für ein Verdienst achtete, meine Schrift in einem grossen Gefolge von Citationen auftreten zu lassen; so könnte ich mit den Titeln von Druckschriften, welche bisher über diese Schädellehre erschienen sind, einen ganzen Catalog anfüllen."

Diese Worte bilden die Einleitung zu einem recht guten Büchlein, das folgenden Titel führt: "Critische Darstellung der Gallschen anatomisch-physiologischen Untersuchungen des Gehirn- und Schädelbaues; von W-r, Zürich 1802".

2) Frorieps Schrift (die übrigens ohne seinen Namen erschienen ist) ist verständig und gut geschrieben. Froriep hat 1799 Galls Vorträge in Wien angehört, und seine Darstellung ist offenbar nicht nur wohlwollend, sondern giebt auch Galls Aussagen treu wieder. Sie hat ein besonderes Interesse dadurch, dass sie uns einen Einblick in die werdende Phrenologie gewährt. Zwar numerirt schon Froriep 26 Organe, aber es ist doch vieles anders, als in Galls späterem Werke. Als No. 1 erscheint ein Organ der Lebenskraft, das im verlängerten Marke gesucht wird. Zwischen No. 2 (Geschlechtstrieb) und No. 6 (Kindesliebe) wird ein Organ der Empfindlichkeit (No. 3) gesucht. Ferner soll über dem Organ des Farbensinnes ein Organ der Freigebigkeit liegen (No. 21), an dessen Stelle bei Geizigen eine Vertiefung zu bemerken sei. Endlich wird vermuthungsweise unter No. 25 ein Organ der Wahrheitliebe angenommen, das über dem der Kindesliebe liege, an dessen Stelle bei Lügnern eine Vertiefung sei. Auch in den Gedankengängen ist manches anders als bei Gall selbst, sodass man anzunehmen hat, Galls Denken habe sich nach 1800 noch beträchtlich vertieft.

Den Schluss der Schrift Frorieps machen zwei Gedichte, die sich auf Galls Lehre beziehen, das eine vom Fürsten Ligne und das andere, eine Erwiderung, von Kotzebue.

2) "Die königl. Medailleurs, Herr Loos und Abramson in Berlin, haben auf den Herrn Dr. Gall, welcher sich jetzt daselbst

243 Rolletts Aufsatz.

aufhält, Medaillen geprägt. Die von Herrn Loos, zeigt auf der Vorderseite Galls Bildniss, mit der Umschrift: Im Forschen kühn, bescheiden im Behaupten; im Abschnitte: geboren 1758. Auf der Rückseite erscheint ein menschlicher Schädel mit einem Schleyer, der ihn aber nur zum Theil verbirgt, mit der Umschrift: Der Seele Werkstatt zu erspähn, fand er den Weg. Der Schädel ruht auf einem Quadratsteine, auf dessen Vorderseite Aeskulaps Schlangenstab und eine Fackel kreuzweis liegen. Im Abschnitte steht: lehrte zu Berlin 1805. (Diese Medaille kostet in feinem Silber 2 Thaler, im Ducatengolde 34 Thaler.)

Die zweyte von Herrn Abramson, welche auf Veranstaltung eines ansehnlichen Theils seiner Zuhörer geprägt wurde, hat auf der Vorderseite sein Bildniss mit der Umschrift: Josepho Gall, organorum in cerebro scrutatori, und der Inschrift: Auditores Berolinenses MDCCCV. Die Rückseite stellt einen Schädel vor, mit den von Gall angegebenen Sitzen der Gemüthsorgane, auf einem Postamente über einem Aeskulapstab, aus dem ein Lorbeerzweig grünt, auf den von der linken Seite her einige Strahlen der aufgehenden Sonne fallen. Die Umschrift aus Claudian ist: Distribuit partes animae sedesque. - Der Geburtsort Galls ist Tiefenbrunn, ein ritterschaftlicher Ort bey Pforzheim." (Intelligenzblatt der J. A. L. Z. No. 61, p. 522 vom 5. Juni 1805.)

4) Diese Briefstellen sind entnommen aus:

Rollett, Prof. Alexander in Graz, Aus dem Zeitalter der Phrenologie mit besonderer Beziehung auf Goethes Verkehr mit dem Phrenologen Gall. (Deutsche Revue. VII. Jahrg. z. Band. p. 360, April-Juni 1882.)

J. Andreas Streicher, der Freund Schillers, heirathete in Augsburg die Tochter des berühmten Orgelbauers und Clavierbauers J. A. Stein. Seit 1795 führte er in Wien die Pianefortefabrik seines Schwiegervaters weiter. Er schloss da Freundschaft mit Gall, der sein Hausarzt war. Als Gall fortging, nahm er sich seiner Angelegenheiten an. Gall schrieb ihm 1805-1827. Alexander Rolletts Grossvater hat die Briefe gesammelt, und so sind sie an Alexander Rollett gekommen. Einige sind an Henriette Streicher gerichtet. Diese übersetzte Galls Werk ins Deutsche und gab ihre Uebersetzung ihrem Arzte Rollett. Rollett, der Enkel, hat einen ansehnlichen Quartband Gallscher Abhandlungen,

244 Anmerkungen zu "Goethe und Gall". 245

geschrieben von Nannette Streicher und gewidmet dem Dr. Anton Rollett.

Leider ist man auf die in Rolletts Aufsatze mitgetheilten Briefstellen angewiesen. Ich schrieb an Rollett und bat ihn, die Briefe Galls einsehen zu dürfen. Rollen antwortete: ich habe "das Uebrige späterer Bearbeitung vorbehalten, wozu ich leider wegen Ueberhäufung mit Berufsgeschäften bis jetzt nicht gekommen bin." Er müsse auch jetzt noch sich die Entscheidung vorbehalten, was von dem Briefwechsel zu veröffentlichen sei, und könne daher meiner Bine nicht entsprechen.

Abgesehen von den Briefstellen habe ich Rollens Aufsatz nicht viel entnehmen können, denn Rollen ist gegen Gall durchaus feindselig gesinnt, und Rollets Unterlagen sind unvollständig gewesen.

b) Ueber das zurückgewiesene Stück wird in der J. A. L. Z. vom 19. 9. 1805 (No.224, p.559) berichtet: "Schöne Künste. Berlin und Leipzig: Die Schädellehre, Lustspiel in I Act. Von C. St. 1805. 64 S. 8°. (7 gr.) Der Chirurg in einer kleinen Stadt, der etwas von Galls Schädellehre vernommen hat, verweigert einem Justiz-Commissar seine Tochter, weil er beym Rasiren einen zu glatten Schädel an ihm bemerkt, und will, wider den Willen seiner Tochter, seinen Gesellen zum Schwiegersohn haben, weil dieser einen Schädel voller Buckeln besitzt. Den in dieser Zeit begangenen Diebstahl giebt er einem bey sich wohnenden Juden Schuld, hinter dessen Ohren er eine erschreckliche Erhöhung gefunden hat. Der Justiz-Commissar entdeckt aber den Dieb in dem von dem Chirurg so gepriesenen Gesellen, und wie dann nun sein Herr ihn fragt, wie es möglich sey, bey solch einem Schädel zu stehlen, so ergiebt sich, dass alle diese Erhöhungen nichts sind als Knorpel, Ueberbleibsel von Schlägen, die er in seiner Jugend, als ein sehr gottloser Bube, von seinem Stiefvater erhalten. Der Erfolg lässt sich errathen. - Der Plan des Stücks ist gut angelegt und durchgeführt, und der Dialog mit Leichtigkeit gehalten."

v. Biedermann (Goethes Briefe an Eichstädt. Berlin 1872) meint, vielleicht sei das Lustspiel "Die Schädellehre" dasselbe wie das von Goethe im J. 1803 erwähnte "Der Schädelkenner". Das ist jedoch sehr unwahrscheinlich, denn wie sollte das 1802 wahrscheinlich von Willemer selbst geschriebene Stück erst 1805

245 Reils Recension.

mit der Autorbezeichnung "C. St." erscheinen ? Auch ist kaum anzunehmen, dass Goethe den Titel falsch angegeben habe, da ihm doch, als er den Brief an Willemer schrieb, dessen Stück vor Augen war. Man müsste also annehmen, dass Willemer seinem Stücke 1805 einen neuen Titel gegeben habe. Wahrscheinlich ist Willemers Arbeit nie erschienen.

g) Num. 71/72. Jenafische Allgemeine Literatur-Zeitung, den 25/26. März 1806, p. 561 ff.

Medicin. Neueste Schriften über Galls Schädellehre. (Vergl. J. A. L. Z. 1805 No. 7-9.)

1. Berlin, b. Unger: Dr. Galls Vorlesungen über die Verrichtungen des Gehirns und die Möglichkeit, die Anlagen mehrerer Geistes- und Gemüthseigenschaften aus dem Baue des Schädels der Menschen und Thiere zu erkennen. Herausgegeben von H. G. C. v. Selpert. 1805. 124 S. B. (12 gr.)

z. Magdeburg, b. Keil: Ausführliche Darstellung des Gallschen Systems der Schädellehre. Nach den neuesten Vorlesungen des Hn. D. Gall bearbeitet. 1805. 112 S. B. (12 gr.)

3. Berlin, b. Schöne: Ideen zu einer künftigen Beurtheilung der Gallschen Untersuchungen über die Verrichtungen des Gehirns - mit besonderer Rücksicht auf die Bergkschen Bemerkungen und Zweifel über diese Theorie, von F. F. Flemming, prakt. Augenarzte in Berlin. 1805. 74 S. B. (8 gr.)

4. Erfurt, b. Hennings: Dr. Joseph Galls System des Gehirn- und Schädelbaues nach den bis jetzt über seine Theorie erschienenen Schriften. Als Leitfaden bey akadem. Vorlesungen dargestellt von J. Th. Ferd. Kajetan Arnold, D. d W. W. u. Rechtswiss. Mit einem erläut. Kupfer. 1805. 304 S. B. (1 Rthlr. 10 gr.)

5. Dresden, b. Arnold: Dr. F. J. Galls Lehre über die Verrichtungen des Gehirns nach dessen zu Dresden gehaltenen Vorlesungen - von einem unbefangenen Zuhörer. Mit 1 Kupf. 1805. XVI u. 152 S. B. (16 gr.)

6. Das.: Desselben Buchs zweyte vertu. und verbess. Auflage. Von Karl Aug. Blöde, kurf. sächs. Finanz-Sekretär. 1806. XX u. 187 S. mit 1 Kpft. (18 gr.)

246 Anmerkungen zu "Goethe und Gall".

7. Berlin, b. Schöne: Beleuchtung der Gallschen Gehirnund Schädellehre durch Vernunft und Erfahrung geleitet, von einem von aller Parteylichkeit freyen Beobachter, für Ärzte und Nichtärzte. Mit 1 Kupfer. 1805. VIII u. 288 S. gr. B. (1 Rthlr. 4 gr.)

B. Heidelberg, b. Mohr u. Zimmer: Die Gallsche Hirn-, Schedel- und Organenlehre, vom Gesichtspunkte der Erfahrung aus beurtheilt und widerlegt von J. F. Ackermann, kurf. bad. geh. Hofrath, d. Anat. u. Physiol. Prof. zu Heidelberg. 1806. 13 Bog. B. (1 Rthlr.)

Es wäre eine arge Satire auf Deutschland, wenn der Beyfall, den Galls System hier gefunden hat, nicht von solchen Leuten gezollt worden wäre, deren Lob und Tadel in diesem Punkt durchaus gleich viel gilt. Ob ein reisender Schauspieldichter, ob ein pedantischer Ausrufer im Freymüthigen, ein PagenStudien-Direktor, ein Finanz-Sekretär, ein Doktor der Rechte, ob alle unsere eleganten Herren und Damen ein anatomisch-physiologisches System für wahr oder falsch halten, macht nichts aus; eben so wenig ist auf die Stimme der mehresten praktischen Ärzte zu achten, welche gewöhnlich die Anatomie nicht genau studirt haben, und von denen das genaueste Studium aller Theile dieser Disciplin auch nicht zu fodern ist. Ein solches Studium, als die Beurtheilung jenes Systems voraussetzt, darf man nur von dem Lehrer der Anatomie und Physiologie erwarten, der mit Eifer seinem Fach obliegt; nur von ihm kann die Gallsche Hypothese in ihrem ganzen Umfange gewürdigt werden. Bisher haben erst wenige Anatomen ein Urtheil gegeben: die Vf. von No. 7 und 8, Rudolphi in seinen Reisebemerkungen, und J. G. Walter in seinem Etwas über Galls Schädellehre; alle diese Schriftsteller haben bestimmt dagegen gesprochen. Man hat Waltern die Heftigkeit vorgeworfen, womit er sich gegen Gall erklärt hat; man hat daraus den sonderbaren Schluss gezogen, dass er Unrecht habe; allein man bedachte nicht, dass W. nie sonderlich an Urbanität gewöhnt war, und dass es einem im anatomischen Studium ergrauten Mann kränkend seyn musste, in seiner Gegenwart eine Theorie mit Lob überhäuft zu sehen, deren Falschheit ihm einleuchtete. Wenn je Indignation zu verzeihen ist, so ist es hier, und es wird schwerlich jemand auf-

247 Reils Recension.

treten, der das Gegentheil von Walters mehresten Behauptungen zeigen könnte.

Das Umfassendste und Treffendste über Galls Hypothese hat Ackermann in der Schrift No. 8 geliefert, die Rec. daher als Leitfaden bey seiner Beurtheilung benutzt. Im I Abschnitt widerlegt der Vf. Galls irrige Vorstellungen vom Hirnbau, die ältere Schriften ähnlichen Inhalts noch nicht kannten, da Gall erst in neueren Zeiten auf diese Hypothese gekommen ist. Reil und Loder haben zwar erklärt, dass sie Galls Entdeckungen in der Anatomie des Gehirns bewundern; allein man wird irre, wie diess möglich war, wenn Loder zugleich sagt (in Bischofs Vorrede zu seiner Schrift über Gall, und in der Schrift No. 6 S. 173), dass er sich schäme und ärgere, seit fast dreyssig Jahren, hunderte von Gehirnen wie einen Käse (!!) zerschnitten zu haben. Wie kam ein Anatom zu einem solchen Bekenntnisse, der Vicq d'Azyr's zwey und zwanzigste Tafel in seinen Tabellen hat nachstechen lassen? Denn jene enthält, wie Ackermann richtig bemerkt, durchaus alles, was von Galls angeblichen Entdeckungen über den Hirnbau wahr ist. Rec. geht aber noch weiter, und bittet die Herren, welche hier so viel Neues sehen, Thom. Willis cerebri anatome Cap. 13-15, und dessen Buch de anima brutorum Cap. 4 mit den dahin gehörigen Zeichnungen, nachzusehen; sie werden finden, dass alles, was Gall über den Zusammenhang der Hirntheile angegeben hat, dort sehr umständlich aus einander gesetzt worden, und dass Willis sogar die Methode, diese Theile zu präpariren, angezeigt hat. Sollte Loder nie den trefflichen Willis gelesen haben? Von einem Professor der Anatomie liesse es sich doch wohl erwarten!

Mit Recht verwirft Ackermann Galls Ansicht, als ob das Gehirn aus einer zusammengefalteten Haut bestände, die bey dem Wasserkopf entfaltet würde. Man kann die Präparation, wobey man das Gehirn, nach hinweggenommener Gefässhaut, aus einander zerrt, sehr leicht nachahmen; allein es ist nichts als ein Kunststückchen zur Spielerey, und Rec. begreift nicht, wie ein Anatom hierauf einigen Werth setzen kann. Eben so falsch ist Galls Idee von der Rindensubstanz. In ihr endet sich keineswegs das Nervenmark, sondern hier nimmt es seinen Ursprung; sie besteht fast ganz aus Gefässen, wie die Ausspritzungen gezeigt haben. Gall nennt sie eine sulzige, eine drüsenartige Sub-

248 Anmerkungen zu "Goethe und Gall".

stanz, hält sie für ein Ganglion des Nervenmarks (Nervenfibern nach ihm), und beweiset durch alles diess eben so sehr seine Unkunde, als seine Dreistigkeit, die lächerlichsten Dinge Anatomen über solche Gegenstände vorzutragen, in denen er billig selbst erst Unterricht nehmen sollte. Eben so wenig gilt, was Gall von anderen Theilen des Gehirns behauptet, wenn er sie Ganglien nennt, da sie durchaus nichts von deren Struktur haben, oder wenn er grosse Gehirntheile Nerven nennt. Diess ist nicht bloss gegen den Sprachgebrauch, sondern verwirrt alle Begriffe; und beynahe möchte man glauben, dass diess Galls Absicht gewesen. Denn die vom Gehirn und Rückenmark abtretenden Körper, welche wir Nerven nennen, sind durch ihre fadige Beschaffenheit und die die Fäden umwickelnde Gefässhaut, sowie durch ihre allgemeine Hülle, so deutlich von allen übrigen Theilen der Körper unterschieden, dass jeder Anfänger sie erkennen muss. Ackermann wundert sich, dass Gall die Riechund Sehnerven als vom Rückenmark austretend betrachtet; allein er folgte nur Willis (cerebri anatome Cap. 13), der deutlich sagt: nervi optici et olfactorii longo ductu et ambagibus cerebri superficiem perreptant, ut infra hanc partem medullae oblongatae inserantur. Zurücktretende Nerven hatte Willis auch schon, und Galls ganze Theorie, so falsch sie ist, konnte ihm keine Mühe machen, da er alles bey jenem vorfand. Sehr gut urtheilt Ackermann von der irrigen Vorstellung, als ob von den doppelten Organen eines zur Reserve da wäre; was Gall sogar von den Augen zu behaupten wagt. Das gewählte Beyspiel, dass man, wenn man einen Gegenstand mit beiden Augen betrachtet, und vor das eine Auge ein rothes, vor das andere ein blaues Glas hält, den Gegenstand weder roth noch blau, sondern grün erblickt, weil beide Farben darin zusammenschmelzen, zeigt den Ungrund davon deutlich genug. Die Commissuren der Hirntheile waren längst bekannt. Dass die Fasern der Pyramidalkörper sich im Hirnknoten kreuzen, hat Rec. nie gesehen, und begreift auch nicht, wie die übrigens deutlichen und längst bekannten Querstreifen im Hirnknoten als zurückgehende Nerven angesehen werden können. Das Gehirn endlich als einen Fortsatz des Rückenmarks, oder als einen von ihm gebildeten Theil betrachten zu wollen, heisst, eine alte aus guten Gründen lange verworfene Meinung aus blosser Liebe zu Paradoxien auffrischen.

249 Reils Recension.

Das Rückenmark ist ja nicht früher da, und beim Foetus hat schon offenbar das Gehirn gegen dasselbe ein Übergewicht. Weiter braucht man nichts anzuführen, obgleich Ackermann noch andere gute Gründe angiebt, von der Funktion der Rückenmarksnerven u. s. w.

Ganz unstreitig ist also der Satz, dass alles Wahre, das Gall vom Gehirn behauptet, den Anatomen bekannt war, und alles ihm Eigene, von den Ganglien und Nerven im Gehirn, von der allgemeinen Durchkreuzung, von der Entfaltung u. s. w. durchaus falsch erfunden wird. Was Loder darin Bewundernswürdiges gefunden hat, weiss Rec. nicht; er bittet aber den trefflichen Sömmering, der bisher noch schwieg, seine Stimme zu geben: seine Competenz wird keiner verkennen. (Im Vorbeygehen bemerkt Rec., dass Ackermann glaubt, alle Fötus, die ohne Gehirn geboren werden, hätten vorher dasselbe gehabt; allein wenn man die Fälle vergleicht, so ist doch mancher Unterschied da, und hin und wieder scheinen die Schädelknochen durch eine ursprüngliche Monstrosität so gebildet zu seyn; die Zerstörung müsste dann zugleich beym Ausfliessen des Wassers aus dem Kopf so gross gewesen seyn, dass schwerlich dabey der Fötus hätte am Leben bleiben können. Vergl. Prochaska Annotatt. Acad. Fasc. 3 S. 185 sq. Man hat ja auch selbst Missgeburten ohne Kopf.)

Im II Abschnitt spricht Ackermann vom Schädelbau. Hier ist auch besonders der Vf. von No. 7 zu nennen, der aus eigenen Untersuchungen viele gute Beobachtungen darüber beybringt, sowie die Darstellung der Gallschen Meinungen über diesen Punkt in No. 5 und 6 deutlich, doch freylich ohne eigene Ansichten ist. Der Hauptpunkt ist immer dem Kranioskopen die Frage, ob die beiden Tafeln der Schädelknochen, wie Gall will, so parallel laufen, dass eine äussere Vertiefung eine innere Erhabenheit, und umgekehrt, bezeichnet. Dieser Parallelismus ist aber nur höchst eingeschränkt anzunehmen, worin Rec. mit den Vfn. von No. 7 und 8 einer Meinung seyn muss. Indem sich die Muskeln, welche am Schädel sitzen oder ihren Ursprung nehmen, entwickeln, muss an allen diesen Stellen die Beschaffenheit der äusseren Tafel verändert werden, und man findet dann keineswegs die innere mit ihr parallel. Dasselbe gilt von allen Stellen, wo Luft in die Zellen der Schädelknochen gedrungen

250 Anmerkungen zu "Goethe und Gall".

ist. Bey sehr vielen Schädeln treten individuelle Verschiedenheiten ein und man trifft die grössten Abweichungen der Tafeln an einzelnen Stellen der Schädelknochen, und in der Form des Schädels, wie jeder Anatom wissen muss. Viele Veränderungen sind krankhaft, z. B. bey der Rhachitis, bey der Lustseuche; und auch diese Beyspiele können Keinem unbekannt seyn, da sie so äusserst häufig vorkommen. Bey den Thierschädeln ist der gerühmte Parallelismus noch viel weniger anzunehmen; und häufig ist nicht Eine Stelle äusserlich am Schädel, besonders vorne und oben, von der man auf die innere Tafel schliessen kann. Es ist daher äusserst auffallend, wie Gall den ganzen Schädel als vom Gehirn gebildet, annehmen kann, und noch mehr, dass er das Gehirn bis in das späteste Alter die Gestalt der Schädelknochen bestimmen lässt. Es zeigt offenbar, dass er entweder die Osteogenie wenig studirt hat, oder sein besseres Wissen, der Hypothese zu gefallen, gefangen nimmt. Die Knochen machen ein eigenes System aus, das sich, eigenen Gesetzen gemäss, allmählich formt und umbildet; und es ist die grösste Einseitigkeit, wenn Gall alle anderen Knochen übersieht, die sich mit dem Schädel gleichzeitig verändern. Hätte er nur diesen einen Punkt ins Auge gefasst, so würde er unmöglich die Veränderungen des Schädels vom Gehirn abgeleitet haben, oder er würde gezwungen worden seyn, die Bildung der Skelete vom Gehirn abzuleiten. -Wenn Gall einen Fall gesehen hat, wo die Schädelknochen einer alten Person dicker wie gewöhnlich waren, so ist dieser einzig, wofern nicht vom Umfang der Stirnhöhlen die Rede ist; denn noch sah Rec. beständig, wie Sömmering und alle übrigen Anatomen, dass die Schädelknochen im Alter dünner wurden; und auf dieselbe Art nehmen alle übrigen Knochen ab. Eben so wenig werden die Schädel wahnsinniger Personen beständig dicker gefunden; häufig sind sie ganz wie gewöhnlich, häufig sogar dünner. Auch diese Fälle sind allen Zergliederern bekannt. Von acht Selbstmördern hat Ackermann die Schädel untersucht, und bey keinem Galls Behauptung, dass sie dicker seyen, bestätigt gefunden. Offenbar liegt der Hauptfehler darin, dass Gall, wenn ihm widernatürlich dicke und feste Schädel vorkamen, von diesen wenigen Beyspielen allgemeine Schlüsse abzog. Allein hätte er auch noch so viele Beyspiele, so beweisen sie doch alle nichts, weil er die Untersuchung des übrigen Skelets dabey ver-

251 Reils Recension.

nachlässigte, dessen Vergleichung ihm über alle, oder doch die mehresten Fälle, ganz andere Aufschlüsse gegeben haben würde. Rec. kennt keine einzige Veränderung in der Substanz der Schädelknochen, die er nicht auch bey den übrigen Knochen angetroffen hätte; er muss es daher für Thorheit halten, wenn man dabey an das Gehirn denken will.

Das Resultat ist wieder: Gall kennt den Schädelbau so wenig als den Gehirnbau, und er hat darüber nicht einen einzigen richtigen neuen Satz vorgetragen, wofern man ihm nicht, wie der höfliche Vf. von No. 2 das Compliment machen will, dass man sonst geglaubt habe, der Schädel sey aus Einem Knochen gebildet, und es auch wohl noch glaube, bis Gall zuerst entdeckt, dass er aus acht Stücken bestände!! Aber auch diess ist nicht einmal ganz richtig, da bekanntlich das Keilbein und Hinterhauptbein bey Erwachsenen nur Einen Knochen ausmachen.

Die Organenlehre endlich, welche Ackermann im 111 Abschnitt widerlegt, ist eine Sammlung der absurdesten Behauptungen, wie gleich bewiesen werden soll. Mit ihr beschäftigen sich die ersten vier Schriften fast ausschliesslich; allein aus allen ist wenig Trost zu schöpfen. Der Vf. von No. 4 besonders hätte sich doch billig einige Kenntnisse von dem Gegenstande verschaffen sollen, über den er ein Handbuch zu Vorlesungen schreiben wollte, statt dass er jetzt die grössten Schnitzer macht. Der Vf. von No. 5 und 6 stellt Galls Ansichten, doch ohne Prüfung, deutlich dar. In der Schrift No. 7 sind eine Menge äusserst schätzbarer Beobachtungen, und sie zeugt von den Kenntnissen ihres Vfs., der sich billig nennen sollte, da er so viele specielle Erfahrungen angiebt. Die Form seiner Schrift aber ist etwas abschreckend, da der Vf. aus Frorieps Darstellung der Theorie der Physiognomik von Gall, Satz für Satz wörtlich aushebt und widerlegt. Dadurch musste eine ermüdende Weitschweifigkeit entstehen.

Gall ist weder durch seine Gehirn- noch durch seine Schädellehre auf seine Hypothese von den sogenannten Organen des Gehirns gekommen, sondern durch die schlechteste und gemeinste Empirie. jene beiden können verworfen werden, ohne dass diese dadurch widerlegt ist. Sie dienten indess, das Kind aufzuputzen, und konnten denjenigen anlocken und beschäftigen, der das

252 Anmerkungen zu "Goethe und Gall".

Thörichte der Organenlehre einsah; sowie die Herren und Damen, denen jene zu ernsthaft waren, mit dieser spielen konnten. Auf sie wurden Medaillen geprägt, für jene ward er in gelehrte Gesellschaften aufgenommen, und beide brachten Geld.

Unter Organ versteht Gall bald dieses, bald jenes, wie man sieht, wenn man die verschiedenen Schriften über sein System vergleicht, die sämmtiich nach seinen Vorlesungen zusammengetragen sind. Allein eben dadurch, und durch den schwankenden Begriff, den er mit dem Wort Anlage verbindet, welches er beständig im Munde führt, hält er sich für jede Behauptung, die ihm in den Kopf oder in den Mund kommt, eine Menge Schlupfwinkel offen. Die Organe, welche er im Gehirn annimmt, sollen nur die Anlage zeigen; wenn sie stark entwickelt sind, eine grosse Anlage; im entgegengesetzten Fall das Gegentheil. Dadurch will er einmal die menschliche Freyheit retten, zweytens aber auch seine kranioskopischen Aussprüche, wenn sie falsch sind, beschönigen: beides aber wird ihm nie gelingen. Ist die Anlage nach ihm die materielle Bedingung, ohne welche keine Seelenäusserungen möglich sind: so ist sie entweder die einzige Bedingung, und dann ist mit ihr die Kraftäusserung zugleich gegeben; oder es giebt noch eine innere Bedingung (die Seele, das Seelenorgan), welche mit jener die Kraft erzeugt oder darstellt, und dann ist es offenbar, wie Ackermann bemerkt, dass diese Bedingungen in umgekehrtem Verhältniss wirksam seyn können, z. B. eine grosse ausgebildete Anlage mit einem geringen Einfluss des Seelenorgans, oder bey stärkerer Wirkung der Kraft eine geringere Ausbildung des Organs. Sind also ausgebildete Organe vorhanden, so muss von ihnen die Kraftäusserung grösstentheils abhängen, und wo die Kraftäusserung lange fehlt, müssen die Organe oder Anlagen nach und nach vermindert werden. Das sehen wir auch in unserem Körper, z. B. bey den Muskeln, beym Gesichtsorgan. Organe ohne alle Kraftäusserung kann man daher Galln nie zugestehen, und wenn er ein Mordorgan, einen Diebssinn annimmt, so müssen sie auch thätig seyn. Er nimmt ja auch selbst an, bey den Menschen, wie sie gewöhnlich vorkommen, sey kein Organ hervorstechend; alle Anlagen seyen in einem nicht sehr entwickelten Zustande. Das gilt also dann doch wohl so gut von einem Mordsinn, wie von den übrigen, und dann müssen entweder alle Organe thätig seyn, oder

253 Reils Recension.

keines? Und nun nehme man gar, das Mordorgan, der Diebssinn sey sehr stark entwickelt - dennoch sollten sie unthätig seyn können? Wodurch sind sie dann so entwickelt worden? Gall fühlt, dass dabey die menschliche Freyheit aufhört, und will jenes gern leugnen; auf der anderen Seite aber ist er selbst so inconsequent, dass er bey einem Knaben, in welchem er eine solche Anlage sehr stark entwickelt fand, die lebenswierige Einsperrung anrieth. Diess schauderhafte Urtheil eines Phantasten zeigt nur zu gut, wie viel Werth er auf die Anlagen legt. Auf der anderen Seite ist aber auch die leerste Ausflucht, dass, wenn ein Organ gar nicht entwickelt ist, seine Kraftäusserung dennoch sehr stark seyn könne. Bey leichtgläubigen Menschen kann diess die Blössen des wandernden Kranioskopen bedecken, weiter nichts. Denn wie käme ein Mensch zu einer hohen Fertigkeit, ohne alle, oder wenigstens merkliche Anlage, und was wäre im Stande die grosse Anlage unthätig zu machen? Wer annehmen kann, dass 1) gewöhnlich bey den Menschen keine hervorstechenden Organe vorkommen, dass 2) wo sie bemerkbar sind, dennoch dieselben ganz unthätig seyn können, und dass 3) wo keine sichtbar sind, dem ungeachtet die Kraftäusserung deselben sehr stark seyn könne; wer diess annehmen, und dabey auf das Aufsuchen solcher Organe am Schädel nur Eine Stunde Zeit verwenden kann: den können wir nicht anders als einen Thoren nennen, da er ja niemals die geringste Gewissheit erlangt, noch nach Gall erlangen kann. - Dass Gall einen gemeinschaftlichen Empfindungsplatz leugnet, ist sonderbar genug; denn am Ende muss doch Einheit hervorgehen, und sein zertheiltes Bewusstseyn ist höchst widersinnig. Alle seine zum Ekel wiederholten Gründe für die Annahme eigener Organe für jedes Geistesvermögen sind sehr seicht, und es ist unbegreiflich, wie sie jemand für überzeugend halten kann. Es sind folgende: 1) Man ruhet aus, wenn man von einer Seelenverrichtung zu einer anderen übergeht; diess wäre nicht möglich, wenn immer die ganze Gehirnmasse thätig wäre. (Allerdings ist diess möglich, sobald die Kraftäusserung von einem höheren zu einem niederen Grade geht, oder sobald nur irgend einige Veränderung in der Wirkung des Gehirns Statt findet. Derselbe Fall ist bey unseren Muskeln, die zwar lange, allein nicht ganz auf dieselbe Art lange wirken können; endlich muss auch völlige Ruhe eintreten, diese wäre bey Gall

254 Anmerkungen zu "Goethe und Gall".

nie nöthig, wenn nur immer andere Organe wirkten.) 2) Die verschiedenen Seelenkräfte stehen bey den verschiedenen Individuen, sowohl Menschen als Thieren, in verschiedenem Verhältniss. (Das ist wahr; allein dazu bedarf es keiner verschiedenen Organe, sondern das Substrat der inneren Seelenthätigkeit, und die Erregungsgrade des Gehirns, sowie dessen Einwirkung auf die Hemisphäre und die Zurückwirkung auf die Organe der Bewegung können verschieden seyn.) 3) Die Geistesvermögen sind in den verschiedenen Klassen der Thiere in ungleichen Verhältnissen; Gehirn haben sie alle. (Allein ihre Sinnesorgane bedürfen nur ungleicher Empfänglichkeit für äussere Eindrücke, das Gehirn selbst kann verschieden seyn an Gehalt, Erregung u. s. w.) 4) Die Geistesverrichtungen und Kräfte entwickeln sich nicht in gleichem Grade und zu gleicher Zeit. (Diess ist aber leicht daraus zu erklären, dass das Gehirn allmählich mehr ausgebildet, und daher für manche Verrichtungen geschickter wird, endlich nimmt seine Erregbarkeit ab u. s. w. Zugleich ist auf die Erziehung und Bildung zu sehen, auf die einmal gegebenen Eindrücke, wie darauf weiter gebaut wird. Wozu da eigene Organe?) 5) Sollen die partiellen Geisteskrankheiten, soll die partielle Integrität etwas für dïe Organe beweisen. Allein auch dieser Grund ist unstatthaft. Dass einzelne Ideen lebhafter werden, andere schwinden, kann daraus erklärt werden, dass die Thätigkeit des Gehirns für eine Aeusserungsart desselben erhöht oder vermindert seyn kann; Ackermann erklärt es durch die mechanische Anordnung der Ideen, die kein Arzt als das Substrat höherer Geistesfähigkeiten geleugnet hat.

Der Platz, welchen Gall seinen Organen anweiset, ist höchst unglücklich ausgedacht, nämlich in der Rindensubstanz des Gehirns, in welcher das Nervenmark noch gar nicht ausgebildet ist, aus welcher es entspringt, wohin aber keineswegs Nerven gehen, wie Gall annimmt. Jene Gefässsubstanz schickte sich schlecht zum Sitz sclcher edlen Organe, und was Ackermann von ihrer krankhaften Ausdehnung, wobey sich ihre Structur noch mehr bewährt, angiebt, ist gewiss keinem Zweifel unterworfen. Und nun betrachte man überdiess, wie sich hier Organ an Organ legt, und keines von dem anderen abgesondem ist, weder durch seine Beschaffenheit noch durch irgend eine Grenze. Nimmt man gar mit Gall an, das Hirn sey ein zusammengefaltetes Tuch,

255 Reils Recension.

so muss er sich mit dem Zirkel darauf die Grenzen für seine Organe abstecken, denn die Natur gab sie nicht; er selbst aber verwirrt auf die wunderlichste Art seine eigene Arbeit. Man höre! An einer und derselben Stelle hat er zwey Organe, das der Gutmütigkeit und das der Darstellungsgabe, die doch wohl selbst beide nichts mit einander gemein haben. Ist nämlich am oberen Theil des Stirnbeins nur die Mittellinie hervortretend, so bezeichnet diess die Entwickelung des Sinns der Gutmüthigkeit: ist der ganze Theil kugelich, so schliesst er auf Entwickelung der Darstellungsgabe. Auf ähnliche Art macht er es mit seinem sogenannten vergleichenden und speculativen Scharfsinn, welche zuweilen beide vom medicinischen Beobachtungsgeiste verdrängt werden. Die mehresten, welche gegen Gall geschrieben, haben diesen Punkt übersehen; Rec. hält ihn für die ärgste Blösse dieser Hirngespinste. Die ganze Annahme dieser Hirnorgane erscheint auch so überflüssig wie möglich, wenn man die Structur des Gehirns betrachtet; man sieht, wie die Sinnesnerven zum Inneren des Gehirns dringen, und die Sinneshügel bilden, und diese hängen mit dem Mark der Hemisphären zusammen; die von da zum Rückenmark durch die Pyramidalhügel laufenden Markstreifen geben die entgegengesetzte Sphäre. So erhält das Gehirn die Eindrücke der Aussenwelt auf dem einen Wege, wirkt auf dem anderen auf sie zurück, und im mittleren Hirnmark selbst geschehen die Seelenverrichtungen. Der Mensch besitzt ausgebildetere Sinnesorgane (bis auf das Geruchsorgan), grössere Sinneshügel (wie A. behauptet, welches aber gerade auf den bey dem Menschen so ausgebildeten Sinn des Tastens nicht anzuwenden ist), und eine grössere Markmasse an den Hemisphären des grossen und kleinen Gehirns. - Was Gall von den allgemeinen Vermögen sagt, die sich über alle Organe verbreiten sollen, ist sehr unrichtig, wenn er allen Gewissen zuschreibt, u. dergl. m.; besonders wenn er ein jedes gradweise sich erhöhen lässt, nun in jedem Urtheilskraft sucht u. s. w. Wie falsch diess sey, sieht man schon daraus, dass wir Dinge vergleichen und daraus ein Umheil ziehen können, obgleich dieselben nach Gall verschiedenen Organen angehören. Diess müsste nie geschehen, wenn das Umheil über jede Sache sich nur auf Ein Organ beschränkte.

Durch das, was Rec. ausgehoben hat, zeigt sich das Un-

256 Anmerkungen zu "Goethe und Gall".

gegründete der Gallschen Hypothese hinlänglich. Die einzelnen Organe selbst hier durchzugehen, würde zu weit führen; auch findet man eine Fülle treffender Bemerkungen dagegen bey den Vfn. von No. 7 und B. Gall ist zur Annahme aller dieser Organe auf dieselbe Weise gekommen; er bemerkte an dem Schädel eines Menschen, der sich durch irgend etwas auszeichnete, eine Erhöhung; er schloss nun auf einen darunterliegenden stark entwickelten Hirntheil, durch welchen der Schädel an der Stelle gehoben sey, und glaubte in ihm das Organ jener Eigenschaft zu finden. Er versichert, dass er viele Menschen verglichen habe, und das wird gern zugegeben; er kann auch bey vielen Menschen von einer gewissen Eigenschaft jenen Bau bemerkt, und im negativen Fall jener Eigenschaft, statt einer Erhöhung eine Vertiefung bemerkt haben: berechtigt das aber je zu allgemeinen Schlüssen? Viele Menschen, die sich in einem und demselben Dinge stark auszeichnen, trägt die Erde nicht zugleich, wenigstens nicht in der Art, dass Ein Mann sie in Einer Stadt gehäuft fände. Die vergleichende Anatomie kann hier nichts sagen, wenn auch davon abgesehen wird, dass die Erhöhungen und Vertiefungen, die äusserlich an ihrem Schädel bemerkbar sind, mit der inneren Tafel fast nie parallel laufen. Denn die Eigenschaften der Thiere und Menschen sind selten zu vergleichen, und von Tugenden z. B. kann bey jenen nie die Rede seyn. Das Gehirn ausgezeichneter Menschen ist fast nie untersucht, und hat auch nichts gezeigt, worauf zu bauen wäre. Alles hängt also von der Schädelform ab; wie trüglich aber diese sey, weiss jeder Anatom. Zu jedem affirmativen Fall, den Gall angiebt, ttm seine Hypothese zu rechtfertigen, lassen sich andere anführen, die ihr im Wege stehen; er ist nicht im Stande, sie zu leugnen, sondern sucht sich nur durch die obengenannte Anlage, die entwickelt und nicht entwickelt seyn kann (wie es der Schädel erfordert), zudecken. -Nähme man aber wirklich mit Gall Hirnorgane an, so wäre es doch nicht möglich, die seinigen anzunehmen: denn es ist kein einziges darunter, gegen welches sich nicht die triftigsten Einwürfe darböten. Seine Anhänger (servum imitatorum pecus) sagen, wenn man etwas an seinen Organen auszusetzen hätte, müsse man mit der Natur hadern: allein die Herren sollten bedenken, dass es etwas anderes sey, etwas in der Natur finden, oder der Natur etwas aufbürden. Nur das letztere passt auf

257 Reil als Psychiater.

Gall. Manche seiner Organe stehen an solchen Stellen, wo das Gehirn gar nicht auf den Schädel wirken könnte, wenn es auch sonst diess thäte. Das gilt z. B. bestimmt von seinen Gedächtnissarten, wo man nur grösstentheils von der Ausdehnung der Stirnhöhlen reden kann; sein Wortsinn bezeichnet eine gewisse Bildung des Auges, (z. B. bey der Kurzsichtigkeit,) oder der Augenhöhle; sein Organ des Geschlechtstriebs ist sehr unglücklich in das kleine Gehirn versetzt, da jener doch gar nicht vom Gehirn abhängt, wie jedem bekannt ist; fast alle Organe endlich sind unrichtig als selbstständig dargestellt, da man sie leicht von der verschiedenen Thätigkeit des allgemeinen Seelenorgans, oder von Entwickelungen der Sinnesorgane ableiten kann, wie Rec. ausführlich zu beweisen, für überflüssig hält. Galls einseitige Beobachtungen und kühne Behauptungen konnten täuschen, aber nur eine kurze Zeit. - Commenta delet dies. J. R.

7) Joh. Christ. Reil war am 28. z. 1759 in Ostfriesland geboren. Er wurde 1787 ausserord. Professor der Medicin in Halle, ging 1810 nach Berlin, übernahm nach der Schlacht bei Leipzig die oberste Leitung der Kriegshospitäler und starb am 22. November 1813 am Typhus. Er hat sich durch anatomische Untersuchungen ausgezeichnet, hat eine Fieberlehre und Verschiedenes über Psychiatrie geschrieben (ausser den Rhapsodien veröffentlichte er eine Uebersetzung von Cox' psychiatr. Journal und er gab von 1803-1805 das Magazin für psychische Heilkunde heraus). Auch hat er das Soolbad in Halle angelegt.

Seine "Rhapsodien" kann man nicht schlechtweg loben.

Lobenswerth ist, dass er auf Verbesserung der Tollhäuser dringt. Sein Hauptanliegen ist dabei, man soll die Heilanstalten von den Pflegeanstalten trennen, ein Vorschlag, der befolgt worden ist, sich später aber als unzweckmässig erwiesen hat. Was er über die Geisteskrankheiten und ihre Behandlung sagt, das ist nicht gerade viel werth. Von klinischen Studien ist wenig zu bemerken; Bücherkenntnisse und Naturphilosophie sind die Hauptsache. Seine psychische Heilmethode, der Kern des Buches, ist principiell verfehlt. Es handelt sich um die alten Kniffe, die Kranken zu zähmen oder einzuschüchtern, sie durch Spiegelfechtereien zu täuschen, heftige Gemüthsbewegungen zu erregen. Die Voraussetzung der Behandlung ist natürlich, dass die Krank-

258 Anmerkungen zu "Goethe und Gall".

heit auch durch seelische Einwirkungen entstanden sei. Reil glaubt daran eben so wie seine Vorgänger, ist also auch ätiologisch durchaus Reactionär. In Wirklichkeit ist nur die hysterische Störung psychisch entstanden und psychisch heilbar. Reil weiss zwischen Hysterie und Geisteskrankheit anderer Art durchaus nicht zu unterscheiden, nimmt zu seinen Beispielen Hysterische und wendet die Folgerungen auf Melancholische, Paranoische u. s. w. an. Man sieht dabei übrigens, dass manche hysterische Zustände, die man erst neuerdings wieder entdeckt hat, schon damals ganz gut bekannt waren, besonders die Zustände doppelten Bewusstseins. Trotz aller guten Absicht ist die von Reil empfohlene Therapie gerade so roh wie die der Früheren. Er billigt alle die unsinnigen Proceduren, die man ersonnen hatte: Stockschläge und Ochsenziemerprügel als Strafe, Peitschen mit Brennnesseln, um das Gefühl anzuregen, plötzliches In-den-Fluss-stürzen, Untertauchen bis zur Bewusstlosigkeit, Emporziehen an Stricken u. s. w. u. s. w. Bei Einrichtung einer Irrenanstalt solle man nicht vergessen, was "zur psychischen Kur der Irrenden erfordert wird: Traufen, Sturzbäder, Douchen, Höhlen, Grotten, magische Tempel"; es müsse auch eine Vorrichtung da sein, "durch welche der Kranke scheinbaren Gefahren ausgesetzt und dadurch zur Selbsthülfe aufgemuntert wird". - Liest man Reils Buch, so gewinnt Goethes Psychiatrie beträchtlich. Man sieht, wie die Aerzte noch in dem alten Wuste steckten, und erlangt erst ein Maass für Goethes maassvolle Haltung.

Auch das sieht man, dass ein Mann wie Reil besser gethan hätte, sich nicht an Gall zu reiben, der ihn thurmhoch überragte

S) Joh. Gottlieb Walter (1. 7. 1734-3. 1. 1818), geboren zu Königsberg, wurde 1760 Prosector in Berlin, 1774 erster Professor der Anatomie. Sein Hauptverdienst war seine Sammlung anatomischer Präparate, die ihm der Staat für 100000 Thaler abkaufte. Er selbst machte Nerven-Präparate. Seine Schmähschrift gegen Gall habe ich mir trotz aller Mühe nicht verschaffen können. Jedoch sind manche Sätze daraus bei Gall citirt.

Jacob Fidelis Ackermann (23. 4. 1765-28. 10. 1875), geboren in Rüdesheim, war erst Professor der Botanik, dann Professor der Anatomie in Mainz, wurde 1804 nach Jena, 1805 nach Heidelberg berufen. Er hat allerhand geschrieben: über die Kreuzung

259 Ackermann und Kotzebue.

der Sehnerven, über Cretinismus, eine "Darstellung der Lebenskräfte", und Anderes. Erst nahm er den "chemiatrischen Standpunkt" ein, später wandte er sich der Naturphilosophie zu.

Gegen Gall ist Ackermanns Schrift mit folgendem Titel gerichtet: "Die Gallsche Hirn-, Schedel- und Organenlehre vom Gesichtspuncte der Erfahrung aus beurtheilt und widerlegt von Dr. J. F. Ackermann, Churfürstl. Badischen geheimen Hofrath, der Anatomie und Physiologie an der Univ. zu Heidelberg ord. öff. Lehrer. Heidelberg 1806." Sie ist ein ganz elendes Machwerk. Es genügt aus ihr folgende Stelle (p. 187) wiederzugeben:

"Herr Dr. Gall hätte wirklich an keinen unschicklicheren Ort diese seine Organe versetzen können, als in die Rindensubstanz des Gehirns, denn aus dem, was ich bereits oben (§ 12) gesagt habe, ist die Rindensubstanz nur der Mittelkörper, durch welchen das Gefässsystem in das Nervensystem übergeht. Es ist daher in der Rindensubstanz selbst das Nervenmark noch nicht ausgebildet, und eben darum zu den Geistesverrichtungen noch nicht fähig."

Uebrigens haben die deutsche Wissenschaft und der römische Stuhl dieselbe Auffassung gehegt, denn Galls Schriften sind von beiden auf den Index prohibitorum librorum gesetzt worden.

Mit Betrübniss sieht man, welches erbärmliche Geschwätz damals deutsche Professoren den lichtvollen Darlegungen Galls entgegengesetzt haben.

9) Die Organe des Gehirns; Lustspiel in drey Aufzügen von Aug. von Kotzebue. Erschien 1806. XX. Band des Theater von A. v. K. Wien 1833.

Ein alter "Herr von Rückenmark", der sein ganzes Geld an eine Sammlung der unwahrscheinlichsten Schädel gewandt hat, ist ein begeisterter Anhänger der Lehre Galls und beurtheilt alle Leute nicht nach dem, was sie sagen und thun, sondern nach der Form ihres Kopfes. Natürlich irrt er sich fast immer, kommt zu Schaden, Tochter und Sohn erreichen ihre Zwecke gegen ihn, u. s. f.

Das Stück ist recht witzig und zeigt ziemliche Kenntnisse der Organologie. Gall selbst, der mit Kotzebue verkehrte, soll der ersten Aufführung der "Craniomanie'l beigewohnt und herzlich gelacht haben. -

260 Anmerkungen zu "Goethe und Gall".

v. Biedermann nennt als Beweis der Volksthümlichkeit Galls ein weiteres Lustspiel: "Doctor Gall auf der Reise", von Freygang, 1805. Ich habe es mir nicht verschaffen können.

10) Man kann auf Gall folgende Worte Goethes, Gespräche IV, mit Soret 30. 12. 1823, mit Recht anwenden:

"Es wird aber in den Wissenschaften auch zugleich dasjenige als Eigenthum angesehen, was man auf Akademien überliefert erhalten und gelernt hat. Kommt nun einer, der etwas Neues bringt, das mit unserm Credo, das wir seit Jahren nachbeten und wiederum andern überliefern, in Widerspruch steht und es wohl gar zu stürzen droht, so regt man alle Leidenschaften gegen ihn auf und sucht ihn auf alle Weise zu unterdrücken. Man sträubt sich dagegen, wie man nur kann; man thut als höre man nicht, als verstände man nicht; man spricht darüber mit Geringschätzung, als wäre es gar nicht der Mühe werth, es nur anzusehen und zu untersuchen; und so kann eine neue Wahrheit lange warten, bis sie sich Bahn macht."

Auch folgender Ausspruch Goethes (Annalen für 1821) mag mit Recht auf Gall angewendet werden: "Seine Art zu schauen und zu denken sagt dem Zeitgeist nicht zu; daher secretirt dieser das Buch durch ein unverbrüchliches Schweigen, in welcher Art von Inquisitionscensur es die Deutschen weit gebracht haben."

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Below are additional extracts which detail the taking of the life masks of Goethe.

 

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28 Das Körperliche.

zu preisen, dass es uns wenigstens die mechanische Nachbildung von Goethes Gesicht gegönnt hat. Goethe

Mundes sei sehr kurz, B. das Kinn sei kräftig, und der "knochige" Kinnbacken kräftig ausgebildet [falsch!].

Ueber die Jugendbilder ist meines Erachtens gar kein Urtheil möglich. Am meisten beschäftigt sich Weilbach mit den Bildern von Juel und von May, die ja auch am ehesten in Betracht kommen, und ich gebe ihm darin Recht, dass das gerühmte Bild Mays etwas geleckt sei. Das von Weilbach gerühmte Bild von Darbes ist mir höchst verdächtig, ebenso wie der Stich von Lips; ich bin fest überzeugt, dass Goethe nie so ausgesehen hat. Ebenso wenig verstehe ich, wie man die Bilder von Kügelgen, von Sebbers, die Büste von David loben kann. Das vielgepriesene Bild von Stieler mit dem ganz ungoethischen Munde ist jedenfalls mit Vorsicht anzusehen. Dagegen sehe ich mit Freude, dass auch Weilbach die Zeichnung Jagemanns lobt und sie "eine physiognomische Urkunde" nennt.

Mit Unrecht nennt Weilbach Schadows Büste nicht. Sie und die Büste Rauchs sind die einzigen von wirklichen Künstlern verfertigten Porträts und die, an die man sich in der Hauptsache halten muss. Schadow hat bekanntlich nach der Maske gearbeitet. Rauch hat zwar stilisirt, aber kein Bild Goethes gleicht so sehr der Maske von Gall (Weisser), wie Rauchs Büste, und deshalb verdient die Büste das Vertrauen, das ihr allenthalben entgegengebracht wird. -

Ich schliesse hieran noch eine interessante Aeusserung Schopenhauers, dessen Urtheil besonders werthvoll ist, weil er Goethe gut gekannt hat und weil er zugleich Schopenhauer gewesen ist. Im Jahre 1837 machte Schopenhauer den Frankfurtern Vorschläge "über das Goethische Monument" (die natürlicherund thörichterweise nicht berücksichtigt worden sind), und dabei sagte er:

"Die Büste darf schlechterdings nicht Goethen, wie er in den letzten Jahren war, im Greisenalter darstellen, wo die Gewalt der Zeit seine schönen Züge verunstaltet hatte und der Verfall sich bis auf die flächer gewordene Stirn erstreckte. [Wie mag Schopen-

29 Die Gallsche Maske.

schreibt für den 16. 10. 1807 in das Tagebuch: "Dr. Gall kam nach Tische wieder, wo wir über seine Lehre bis gegen Abend sprachen, da ich mich für ihn abgiessen liess." Am 19. und den folgenden Tagen: "Nachmittags bei Weissem wegen der Büste." Goethe sagte dann zu Th. Kräuter: "Glaubt mir, guter Kräuter! es ist keine Kleinigkeit, sich solchen nassen Dreck auf das Gesicht schmieren zu lassen." Am B. z. 1816 heisst es im Tagebuches "Dir. Schadow. Porträt", am 10. z. "Director Schadow, Gallsche Maske, Kupfermünzen betrachtet" Also Goethe sagt nichts von einer zweiten Abformung. Bedenkt man, dass die erste Abformung ihm unangenehm genug gewesen ist, wie denn in der That das Verfahren peinlich ist (vgl. Joseph Kopfs Aeusserungen darüber), so könnte man wohl daran zweifeln, dass Goethe ganz unnöthiger Weise ausser der vorhandenen Maske eine zweite habe anfertigen lassen. Bemerkenswerth ist, dass er auch später nur von Einer Maske spricht. Am 18. B. 1820 schreibt er: "Hierauf die Berliner Freunde [Schultz, Tieck, Rauch, Schinkel]. Sie [nämlich die Künstler

hauer zu diesen Worten gekommen sein?] Aus seinen besten Jahren, wo das Gesicht bereits den vollen Charakter angenommen hatte, besitzen wir glücklicherweise zwei sehr gute Büsten: die eine von Tieck, die andere von Weisser. Letztere ist nach einem Gypsabdruck von Goethes Gesicht, welchen er 1805 [muss natürlich 1807 heissen] dem Dr. Galt zu Gefallen nehmen liess, gearbeitet, folglich vollkommen ähnlich, aber nicht ideal und mit kurzem Haar. Die erstere ist idealischer gehalten mit wallenden Locken, Jupiterartig . . . Ich wäre für die Weissersche, weil sie Goethes Gesichtszüge genau der Nachwelt überliefern würde."

30 Das Körperliche.

Tieck und Rauch] fingen an die Büste vorzubereiten, indem sie die vorhandene Maske ausdruckten."*) Das soll offenbar heissen: es wurde ein Ausguss der vorhandenen Form angefertigt. Nun schreibt aber Schadow: "Sein [Goethes] Gesicht wurde auch in diesen Tagen [Anfang Februar 1816] abgeformt." Auf diese Stelle allein scheint der Glaube an die Schadowische Maske gestützt zu sein, soweit wie die Literatur in Frage kommt. Jedoch kommt folgendes dazu. Im GoetheMuseum wird ein Abguss aufbewahrt (vgl. die Tafel), der der erste aus der Form Schadows sein soll. Schadow habe die Form mit nach Berlin genommen, und habe dort den Bronzeguss hergestellt, der jetzt ebenfalls im Goethe-Museum ist, und dem die in Berlin käufliche Schadowische Goethe-Maske entspricht. Ferner bestätigt die Weimarische Tradition die Abformung durch Schadow. Herr Geh. Hofrath Ruland theilte mir mit, der alte Meyer habe dem Grossherzog Carl Alexander davon erzählt. Meyer sei dabei gewesen und habe Goethen gerathen, kein allzuernstes Gesicht zu machen, Goethe aber habe erwidert, wie kann ich denn vergnügt sein, wenn ihr mit dem Klumpen nassen Thon da vor mir sitzt. Hat Meyer so erzählt, und liegt nicht eine Verwechselung mit der Abformung durch Gall vor, so muss man wohl an die Sache glauben. Andernfalls wäre es auch möglich, dass

*) Da kaum daran zu zweifeln ist, dass Rauch die Maske Galls "ausgedruckt" hat, so erklärt es sich, dass Rauchs Büste am besten mit der sogen. Weisserschen Maske übereinstimmt, insbesondere die gleiche Form der Stirn zeigt.

31 Beschreibung der Gallschen Maske.

Schadow nur die alte Gallsche Form zur Herstellung einer neuen Form benutzt hätte.

Auf jeden Fall haben wir jetzt zwei Masken vor uns und müssen sehen, wie wir mit ihnen zurecht kommen.

Goethe spricht von der Gallschen Maske. Wo ist sie? Wir erfahren nicht, ob Gall die Form mit sich weggeführt hat, und wo sie geblieben ist. Nur das geht aus den Aufzeichnungen hervor, dass die Büste Wei ssers auf Grund der Gallschen Maske entstanden ist. Wenn Goethe später sagt: "Weiser hat sie [die Maske] nachher aufgesetzt und die Augen geöffnet", so kann nicht von einer Büste die Rede sein, sondern es muss das gemeint sein, was jetzt Weissersche Maske genannt wird. Diese ist in der That "aufgesetzt", d. h. es ist im Unterschiede von anderen Masken soviel Hals angefügt, dass man sie aufstellen kann. Wir haben also jetzt die Gallsche von Weisser bearbeitete Maske vor uns. Man fragt natürlich, inwieweit bearbeitet? Nach der Charakteristik, die Goethe von Weisser giebt,*) könnte man fürchten, dieser habe willkürlich gehandelt. Jedoch muss man bedenken, dass Goethe selbst die Sache überwacht hat, und dass

*) "Tieck liess den unglücklichen Weisser zurück. Dieser besass ein sehr schönes Talent, aber einen in sich gekehrten und unerfreulich oft hervortretenden Widerspruchsgeist. So war er auch unsicher und willkürlich in dem was er that. Er veränderte an einer Büste Stellung, Haare, Kleidung ohne Ursache und Glück, im Thon, im Gyps, ja theilweise im Marmor." (An den Grossherzog, am 26. 5. 1816.)

32 Das Körperliche.

er selbst sagt, Weisser habe Galls Maske nur "aufgesetzt" und ihr die Augen geöffnet. Glücklicherweise also dürfte nichts Wesentliches verändert sein. Zarncke rügt das dicke Unterkinn, aber warum soll es Goethe im Jahre 1807 nicht gehabt haben? Er rügt ferner, die Augen seien zu weit geöffnet und der Raum zwischen Augenbrauenrand und Lidrand sei zu klein. Das kann richtig sein, ist aber kein grosser Fehler. Uebrigens beträgt der Abstand 1 cm, ist also gar nicht klein und entpricht der Natur, wenn man annimmt, das Auge sei wie beim Erstaunen weit geöffnet. Offenbar hat Weisser den Blick nach oben gerichtet gedacht (nicht wie Schadow nach unten). Weisser hat ferner die Ohren und die Haare hinzugearbeitet, wobei nicht viel zu verderben war. Die Form der Stirn und des Gesichts ist wahrscheinlich in der Hauptsache richtig. Höchstens könnte die Nase in ihrem unteren Theile durch den Gips etwas verändert worden sein.

Die Höhe des Gesichtes (vom unteren Rande des Kinnes bis zur Biegung des Stirnbeines) ist etwa 20 cm, die grösste Breite des Gesichts 13 cm, die der Stirn 12 cm, der Abstand der Augenmitten 6 cm, die Länge der Nase 5,7 cm, die Breite des Mundes 6,5 cm. Es besteht eine starke Skoliose des Gesichtes mit der Concavität nach rechts. Der linke Nasenflügel und der linke Mundwinkel einerseits stehen tiefer, das rechte Auge andererseits:*) Abstand zwischen

*) Goethe schreibt an Cotta (22. 10. 1816) : "Es ist zwar nicht zu leugnen, dass mein linkes Auge etwas grösser ist als das rechte."

33 Vergleichung der Gallschen mit der Schadowischen Maske.

äusserem Augenwinkel und Mundwinkel links 8 cm, rechts 7,3 cm. Ursache der Skoliose ist offenbar die wesentlich stärkere Entwickelung der linken Hälfte des Vorderkopfes: die Wölbung der linken Stirnhälfte ist stärker als die der rechten. Von den nur mässig starken Stirnhöhlenbuckeln ist der linke grösser Das Charakteristische der Stirn ist die starke Entwickelung ihres mittleren oberen Theiles und die Breite der Stirn in der Höhe des Schläfenmuskelansatzes. Dagegen ist die untere Stirn schmal (etwa 11 cm), wie schon der geringe Augenabstand zeigt Die Stirnecken fehlen ganz. Von Hautfurchen der Stirn ist wenig zu sehen, nur rechts über dem inneren Augenwinkel ist ein tiefer Einschnitt. Die Nasenlippenfurchen sind tief, die Winkel des festgeschlossenen Mundes sind gesenkt. Die Oberlippe ist mittellang (2 cm) und hat ein auffallend breites Philtrum. Das Kinn ist ziemlich lang (4 cm), breit und kräftig, ein wenig vorstehend, in der Mitte getheilt Die linke Hälfte ist stärker als die rechte. Der Unterkieferwinkel scheint wenig ausgesprochen gewesen zu sein. (Beim alten Goethe stört die Fettentwickelung das Umheil, wenn aber die Bilder von May und von Melchior in dieser Hinsicht richtig sind, so war Goethes Unterkiefer geradezu weiblich weich geformt.) Zu beiden Seiten der Nase sieht man deutliche Pockennarben.

Vergleicht man mit der Gallschen Marke die Schadows, so ergiebt sich Folgendes. Beide Masken stimmen vielfach überein. Breite der Stirn, Abstand

34 Das Körperliche.

der Augen, Breite und Form des Mundes sind dieselben. Will man die Aehnlichkeit erkennen, so lege man beide Masken neben einander und umhülle jede so mit einem Tuche, dass nur das eigentliche Gesicht sichtbar bleibt. Allerdings findet man kleine Unterschiede im Gesichte. Dieses ist bei Schadow ein wenig magerer, denn das dicke Unterkinn fehlt und die Partie zwischen Nase und Ohr ist etwas flacher. Da Goethe bei Gall 58, bei Schadow 67 Jahre alt ist, ist nichts dagegen zu sagen. Ferner ist bei Schadow die Nase ein wenig länger. Mit dem Lineal gemessen ist sie 6 cm lang (bei Gall 5,7), mit dem Bande von der Stirn und Nase trennenden Querfalte bis zur Oberlippe giebt es bei Schadow 8,4 cm, bei Gall B. Auch dieser Unterschied ist nicht wichtig und kann wohl durch Technisches erklärt werden. Der Mund steht bei Schadow weniger schief und beide Kinnhälften sind weniger verschieden. Im Allgemeinen aber ist die Skoliose des Gesichts auch bei Schadow sehr deutlich. Nun kommt aber das Schlimme. Die Stirn ist nicht nur bei Schadow weniger fein gegliedert, sondern viel höher als bei Gall. Vergleicht man die beiden Profillinien, so sieht man den Unterschied ohne Weiteres. Ich habe schon in meinem Buche "über Kunst und Künstler" (S. 280 ff.) über den unerklärlichen Unterschied der beiden Masken gesprochen. Ich hoffte, von besser Unterrichteten aufgeklärt zu werden, aber der Zwiespalt, der mich aufregt, scheint den Anderen gleichgiltig zu sein, denn kein Mensch hat ein Wort darüber gesagt. Zwei echte Masken müssen doch die

35 Beurtheilung von Goethes Stirn nach Gall.

Stirn gleich haben, die Stirn kann sich doch nicht verändern, geschweige denn vom 59. bis zum 68. Jahre um mehr als I cm erhöhen! Auch jetzt noch stehe ich kopfschüttelnd vor den beiden Masken und weiss mir nicht zu helfen.

Beurtheilt man die Stirn Goethes in Galls Sinne, so findet man am stärksten ausgeprägt das Organ der sagacité comparative (Vermögen, das Aehnliche in den Dingen zu erkennen, Urtheilskraft). Die mächtige Entwickelung dieses Organs war auch Gall selbst am meisten aufgefallen. Sodann ist das Organ des Dichtergeistes stark entwickelt, besonders links. Gross ist auch das Organ des Wohlwollens. Mässig stark sind Mimik, Bausinn, Musiksinn. Gering der Sinn für abstractes Denken und der für Witz. Ganz gering der mathematische Sinn. Dagegen wieder ziemlich stark Farbensinn, Ortsinn, Personen- und Wortgedächtniss.

Nun möchte man gern etwas über den weiteren Kopf wissen, aber über ihn können wir nach der Maske nicht urtheilen. Auf die Büsten darf man gar keine Rücksicht nehmen, denn die Bildhauer haben keine Ahnung von der Bedeutung der Sache, und die behaarten Köpfe sind bei ihnen Phantasiestücke. Die wunderlichen Aeusserungen Merians über Goethes Kopf kann man schwer deuten. Wenn er sagt, der Kopf spitze sich nach oben hinten zu, so meint er vielleicht, die mittleren Theile der Scheitelbeine seien hoch gewölbt gewesen. Von den Bildern kann man nur Jagemanns Zeichnung in Betracht ziehen, die vielleicht das zuverlässigste Bild des alten Goethe ist;

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